Stefanie Stein aus Wendlingen schreibt:

Ich gehöre aufgrund meiner Lungentransplantation zur sogenannten „Risikogruppe“. Vor mittlerweile mehr als drei Jahren wurde ein passendes Spenderorgan für mich gefunden. Seit der Transplantation hat sich mein Alltag stark verändert:

Ich kann beispielsweise wieder ohne zusätzlichen Sauerstoff atmen, E-Bike fahren, zum Lungensport gehen, nehme zum ersten Mal in meinem Leben Klavierstunden und kann wieder Freunde treffen. Das sind keine Selbstverständlichkeiten für mich. Damit dies so bleibt, nehme ich bis zu 15 verschiedene Medikamente pro Tag. Einige dieser Tabletten fahren mein Immunsystem herunter, damit die neue Lunge nicht abgestoßen wird.

Für meine Familie gelten -auch bereits vor Coronazeiten- besondere Hygieneregeln. Es gehört für uns zum Alltag, dass wir uns mehr Gedanken zu Ansteckungsrisiken, Hygiene, Reisen, Lebensmitteln, großen Veranstaltungen etc. machen. Begrüßungen per Handschlag sind für mich schon seit vielen Jahren ein Tabu. Mundschutz trage ich in der Öffentlichkeit -je nach Jahreszeit- häufig. Ein Fläschchen Sterilium steckt in jeder meiner Handtaschen.

Da die Jahre vor der Transplantation für uns mit diversen Einschränkungen verbunden waren, sind wir erfahren im Umgang mit einem „kleinen Radius“. In der Zeit, in der ich auf der Warteliste für ein Spenderorgan stand, lernten wir uns an den kleinen Dingen des Lebens zu erfreuen. Diese Erfahrungen haben mich geprägt.

Vielleicht auch deswegen empfand ich die Zeit des Lockdowns als „Geschenk“. Mein Mann durfte im Homeoffice arbeiten und wir haben viel intensive Zeit miteinander verbracht. Ich war sehr glücklich, dass es in Deutschland immer erlaubt war an die frische Luft zu gehen, und das haben wir bei dem herrlichen Wetter täglich genossen. Viele Entscheidungen, beispielsweise gehe ich zur Grippezeit zum VHS-Französischkurs in enge Unterrichtsräume, gehen wir während der Erkältungszeit ins Kino oder in die Oper, nehmen wir Einladungen bei Freunden an, wurden mir abgenommen. Ich musste nicht selbst entscheiden, sondern es war nicht erlaubt oder es fand nicht statt. Das tat mir gut! Der Rückzug in die eigenen vier Wände hat mir gefallen. Ich wurde richtig häuslich und zufrieden. In mir machte sich gleichzeitig auch eine große Dankbarkeit breit, dass ich das Privileg habe, in einem Land wie Deutschland zu leben.

Seit den ersten Lockerungen fühle ich mich nicht mehr in meiner Balance. Mir fällt es schwer wieder die Verantwortung für mein Tun oder mein Nicht-Tun zu übernehmen. Entscheidungen müssen getroffen werden, z.B. besuche ich nach langer Zeit meine Schwiegermutter, treffe ich mein Patenkind, bin ich einverstanden mit dem Wunsch meiner Mutti an ihrem 75. Geburtstag auswärts essen zu gehen, lasse ich meine Klavierlehrerin wieder in unsere Wohnung, gehe ich wieder regelmäßig zur Atemtherapie…

Ich merke, dass durch das Coronavirus mein Vertrauen Risse bekommen hat. Dass ich wieder dazu neige ängstlich zu sein und Entscheidungen schwerer zu treffen. Davon möchte ich wieder wegkommen. Denn durch meine Erfahrungen bin ich im Herzen eine Lebenskünstlerin.

Seit Beginn meiner Lungenerkrankung ist folgendes Zitat von Ibsen zu meinem Lebensmotto geworden: „Das Leben ist immer ein Risiko, mehr Risiko kann auch mehr Leben bedeuten.“ Dieses Risiko möchte ich wieder mit Vertrauen und Selbstbestimmtheit tragen können.

Mir wurden bis dato drei Lebensjahre und vier Monate geschenkt. Diese geschenkten Lebensjahre möchte ich mit Leben füllen – jeden einzelnen Tag!