Meine jüngste Tochter hörte heute früh im Radio eine Sendung zum Hitlerputsch 8./9. November 23 in München: Zwei Historiker erklärten differenziert die Vorgänge und Abläufe, sie beleuchteten die politischen Hintergründe und auch die Gründe für das Scheitern des Putsches. Die Rolle der Deutsch-Schwedin Ellen Ammann, die mit ihrer Intelligenz, Tatkraft und Reaktionsschnelle einen entscheidenden Beitrag zur vergleichsweise unblutigen Beendigung dieses brutalen Angriffs auf Demokratie und Menschenrechte geleistet hat, fand keine Erwähnung. Das wiederum motiviert mich zu diesem Blogbeitrag:

Warum eigentlich ist Ellen Ammanns Beitrag zur Beendigung des Hitlerputschs in der Nachkriegszeit übersehen, ignoriert worden? Passte sie als Frau eben auch in diesen (restaurativen) Jahren nicht ins Raster, so wie sie ihr Leben lang in kein Raster zu pressen war? Ellen Ammann hat Grenzen überschritten und Mauern überwunden, ihr Leben lang.

Was prägte Ellen Ammann, was machte sie zu diesem furchtlosen, tatkräftigen und hellsichtigen Menschen, der sie war? Als Tochter naturwissenschaftlich geprägter und hoch gebildeter Eltern – ihr Vater war Lehrer naturwissenschaftlicher Fächer und Journalist, befreundet mit Charles Darwin, ihre Mutter war Wissenschaftsjournalistin – wuchs Ellen Aurora Sundström, zusammen mit ihrer Schwester Harriet vergleichsweise frei in Stockholm auf. Bei ihren Eltern erlebte sie selbstverständliche Gleichberechtigung in der Ehe. In Sachen Frauenemanzipation war Schweden Deutschland quasi um Lichtjahre voraus, so konnten Mädchen schon viel früher Gymnasien besuchen und junge Frauen hatten das Recht zu studieren.

Die beiden Mädchen wurden von ihren Eltern ganz selbstverständlich zum Segeln, Angeln, Wandern mitgenommen –  und das in den 1870er-Jahren. Die noch jungen Eltern von Ellen und Harriet tobten und tollten mit den Töchtern, sie förderten und forderten sie vielseitig; ein Mikroskop gehörte zum Alltag der Kinder wie Gespräche über Politik. Vermutlich erlebten die Schwestern eine relativ freie und stärkende Kindheit. Die frankophilen Eltern schickten Ellen schließlich auf das französische Gymnasium in Stockholm, das von katholischen Ordensfrauen geleitet wurde und so auch der Zugeneigtheit der Mutter zum Katholizismus entsprach. Hier wuchs und erstarkte Ellens Zuwendung zum christlichen Glauben, auch zur Welt des Katholizismus. Ihrem Wunsch, nach dem Abitur ein Lehramtsstudium aufzunehmen, vielleicht auch mit der Perspektive, an die französische Schule zurückzukehren oder gar ins Kloster einzutreten, wollte der Vater allerdings nicht entsprechen. So entschloss sich die junge Abiturientin nach längerem Ringen und durchaus gegen innere Widerstände zum Studium der neu entwickelten Heilgymnastik. Bald erfolgte die Begegnung mit dem 9 Jahre älteren Orthopäden Ottmar Ammann, der sich in dem neuen Fach in Stockholm fortbildete und die junge Ellen umwarb; doch auch Verlobung und Eheschließung der zwanzigjährigen Stockholmerin mit dem deutlich älteren Deutschen erfolgten nach einer Phase der Unsicherheit, des Zögerns und Abwägens.

Das Paar zog nach München, und es war nicht gerade so, dass München auf die zierliche Ausländerin gewartet hätte. Doch mit beeindruckender Energie kämpfte sich die junge Frau mit klaren Ansichten und tiefgründigen Idealen trotz der Bewältigung des ständig wachsenden Haushalts mit schließlich sechs Kindern plus der Arbeit in der orthopädischen Praxis bzw. Klinik ihres Mannes in ein Leben jenseits des vorgesehenen Spielraums als Frau und Mutter: Unfassbar, was sie bewegte, anstieß, bewirkte!

Sie war Mitgründerin des „Marianischen Mädchenschutzvereins“ (heute IN VIA), sie gründete die Katholische Bahnhofsmission Deutschlands, um junge Frauen, die in der Stadt eine Anstellung suchten, vor Ausbeutung und Menschenhandel zu schützen. Im Grunde leistet sie hiermit das, was später präventive Sozialarbeit genannt werden wird. Ihren Idealen entsprechend, die sie in gleicher Weise ihrer Kindheitsprägung wie dem christlichen Gleichheitsideal verdankt, wird Ellen Amman Teil der Bürgerlichen Frauenbewegung; besonders gut versteht sie sich mit Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann. Ihre gemeinsamen Ziele waren Frauenbildung und Frauenrechte. Ellen Ammann erkennt: Ohne Solidarität, ohne Vernetzung (neudeutsch Networking) wird es nicht gehen, werden die einengenden Strukturen nicht zu überwinden sein. So gründet sie 1904 den Münchner Zweigverein des Katholischen Frauenbundes, der als Verein erst ein Jahr zuvor in Köln ins Leben gerufen wurde und schon bald florierte. Sie bemüht sich um den Vorsitz im Münchner Zweigverein, kein leichtes Vorhaben als Nicht-Deutsche und Nicht-Bayerin, aber ihr gelingt auch dies. 1911 gründete sie noch den bayrischen Landesverband des Frauenbundes. Und 1909 beginnt die katholische Pionierin der Gleichheit mit dem Aufbau der ersten katholischen sozialen Frauenschule Deutschlands und unterrichtet dort selbst auch wöchentlich das Fach „Frauenfrage und Frauenbewegung“, heute würde man sagen „Gender Studies“.

Gleichzeitig ziehen dunkle Wolken über München auf. Aggressiver Nationalismus und Antisemitismus erheben ihre hässlichen Häupter. Leider setzen weder die katholische Kirche noch die konservativen Parteien dem wirklich etwas entgegen; im Gegenteil, sie befeuern die Ressentiments der Rechten. Es sind wohl die immer neu geschürte Kommunistenfurcht und Ängste vor einer Räterepublik, die katholische Kreise blind werden ließen gegenüber der drohenden Gefahr von rechts. Nicht so Ellen Ammann: Nach Einführung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts ist sie Landtagsabgeordnete der ersten Stunde, und als solche erkennt sie glasklar, wie gefährlich dieser Adolf Hitler und Konsorten sind. Zusammen mit anderen Frauen bemüht sie sich deshalb hellsichtig um eine politische Lösung und versucht beim Innenminister die Ausweisung Hitlers als kriminellen Ausländer zu erwirken. Vergebens –  der Innenminister zieht nicht mit. – Wie viel Leid wäre der Welt erspart geblieben, wenn dieser mehr Mut gezeigt hätte!

Leid vieler Menschen hat Ellen Ammann aber mit einer anderen hellsichtigen Tat verhindert, die noch immer übersehen und übergangen wird: Der Hitlerputsch am 8./9. November 1923 hätte ohne ihren Mut, ihre Entschlossenheit und ihre politische Klugheit ein anderes Ende genommen und mit Sicherheit sehr, sehr viele Menschenleben mehr gekostet. Als Ellen Ammann eher zufällig vom geplanten Rechtsputsch hört, der auch die Berliner Republik treffen sollte, handelt sie sofort. Sie informiert alle nicht in den Putsch involvierten Regierungsmitglieder – einer ihrer Söhne benachrichtigt auf dem Fahrrad den stellvertretenden Ministerpräsidenten – versammelt alle in ihrer Frauenschule, berät sie, plant mit ihnen und organisierte ein Auto, das alle in Sicherheit bringt. Durch ihr blitzschnelles, beherztes Handeln, durch ihr kluges Eingreifen war es möglich, dass die Regierung sofort und klar den Putschversuch verurteilte, mit einer Stimme sprach und dafür sorgte, dass der Anfälligkeit konservativer Kreise für die diktatorischen Tendenzen von rechts klare Kante gezeigt wurde. Adolf Hitlers Flucht an den Staffelsee endete mit seiner Verhaftung.

Der rachsüchtige Hitler hat Ellen Ammann dies nie vergessen. Ihre erste Biographie, die schon 1933  mit einer Auflage von 60.00 Exemplaren im Verlag Pustet in Regensburg erscheinen sollte, ließen die Nationalsozialisten komplett einstampfen. „Wenn sie nicht rechtzeitig gestorben wäre, wäre sie sicher dran gewesen“ kommentiert ihre heutige Biographin Schmidt-Thomé. Einige Wochen vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten starb Ellen Ammann an einem Schlaganfall nach ihrer letzten Landtagsrede zu Hilfsmaßnahmen für kinderreiche Familien. – Erst nach ihrem Tod erfuhren viele, dass Ellen Ammann einen säkularen Orden gegründet hatte, dem sie selbst angehörte: die Vereinigung Katholischer Diakoninnen.

Meine Tochter hat übrigens noch heute Morgen der Radio-Redaktion eine Mail geschrieben und auf Ellen Ammann hingewiesen, der Frau, die Hitler die Stirn geboten hat. Ellen Ammann: eine extrem beeindruckende, mutige und kluge Frau, in der sich schwedischer Emanzipationsgeist mit dem biblisch begründeten Gedanken der Gleichheit aller Menschen zu großer Menschliebe und Tatkraft verbanden.