Mathilda Fischer schreibt:

„Tragen Sie bitte Ihre Mund-Nasen-Bedeckung und bleiben Sie gesund…“, tönt es aus den Lautsprechern der Straßenbahn Nr.18 Richtung „Louisa Bahnhof“. Ich bin gerade auf dem Nachhauseweg, zurück in die Kommunität der Steyler Missionsschwestern in Frankfurt, die in den letzten zwei Monaten ein Zuhause für mich geworden ist. Diese ermahnende Stimme aus der Lautsprecheranlage reißt mich aus meinen Tagträumereien und erinnert mich mal wieder daran, was momentan Realität ist: Wir leben in einer Zeit der Pandemie, die so ungewiss und angespannt ist und viele meiner Pläne auf den Kopf gestellt hat.

Ich bin im Februar 18 Jahre alt geworden und hatte in den Monaten zuvor eine ziemlich klare Vorstellung davon entwickelt, was ich nach meinem Schulabschluss machen würde. Ich wollte auf der Zielgeraden des Abiturs nochmal alles geben, mich gründlich vorbereiten und anschließend verdient mit meinen Freund*innen unsere gemeinsame Schulzeit und unseren neuen Lebensabschnitt feiern. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich auch schon, dass mich mein Weg zusammen mit den Steyler Missionsschwestern als „MaZ“ ins Ausland führen würde.

„Wenn du gekommen bist, um mir zu helfen,
dann vergeudest du deine Zeit.
Doch wenn du gekommen bist,
weil du verstanden hast,
dass deine Befreiung unauflösbar
mit meiner Befreiung verbunden ist, dann:
lass uns gemeinsam an die Arbeit gehen!“

Dieses Zitat von Lila Watson (eine indigene australische Künstlerin und Aktivistin) veranschaulicht den Leitgedanken eines Einsatzes als MaZ. „MaZ“ steht für Missionar*in auf Zeit. Mission heute ist dabei im Sinne von gelebter Solidarität und Geschwisterlichkeit zu betrachten. Die Idee eines MaZ-Jahres ist es, andere Menschen, Kulturen und Religionen zu erleben und einander im Mitleben, Mitbeten und Mitarbeiten kennen und verstehen zu lernen. Es geht um Austausch, um Begegnungen auf Augenhöhe, um den Einsatz für soziale Gerechtigkeit, um das „gemeinsam an die Arbeit gehen“. Ohne belehren, aufklären, moralisieren zu wollen.

Kurz nach meinem Geburtstag kam der Anruf, auf den ich gespannt gewartet hatte. Ich sollte MaZ auf den Philippinen sein und dort in einer Einrichtung für Straßenkinder mitarbeiten. Ich fühlte mich überglücklich, aufgeregt, kribbelig.

Corona hat mir dann einen ziemlichen Strich durch die Rechnung gemacht. Zwar hatte ich während des ersten Lockdowns ausreichend Zeit, mich auf meine schriftlichen Abiturprüfungen vorzubereiten, jedoch lebte ich in einer ständigen Ungewissheit, ob diese überhaupt stattfinden würden und wie es danach weitergehen sollte. Die Prüfungen konnte ich zum Glück unter relativ normalen Bedingungen schreiben, doch das Feiern danach fiel ins Wasser. Genauso wie mein MaZ-Jahr auf den Philippinen… Dabei gab es jedoch nie den Zeitpunkt, an dem es hieß „Du wirst nicht ausreisen können“. Die Feststellung, dass eine Ausreise in diesen Zeiten fast unmöglich sein würde, kam sehr schleichend mit der Weiterentwicklung der Pandemie.

In den Vorbereitungsseminaren, die zum Glück trotzdem stattfanden, wurde mir klar, dass ich auch weiterhin MaZ sein kann, auch ohne die Gewissheit einer Ausreise. Und so kam es, dass ich mich dafür entschied, MaZ hier in Deutschland zu sein. Corona erfordert eben die Entwicklung von neuen Ideen, das Eingehen von Kompromissen und ein nicht zu schnelles Aufgeben. Und es war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte.

Vom MaZ-in-Deutschland-Sein und meiner Arbeit in der Elisabeth-Straßenambulanz…

MaZ-Sein sieht für mich seit ungefähr einem Monat so aus: Ich lebe in der Kommunität der Steyler Missionsschwestern in Frankfurt mit und fühle mich unglaublich wohl und aufgenommen dort. Wir haben genauso viele intensive und bereichernde Gespräche, wie wir gemeinsam spielen, lachen und feiern können. Dieser Ausgleich zwischen Humor und Ernsthaftigkeit tut sehr gut und hilft mir auch bei der Verarbeitung meiner täglichen Erfahrungen und Begegnungen.

Von Montag bis Freitag arbeite ich in der Elisabeth-Straßenambulanz (Kurzform: ESA), einer medizinischen Versorgungsstelle für Wohnungslose, mit. Ich kann hier bei Weitem nicht alle Erkenntnisse und Erfahrungswerte nennen, die mir die letzten zwei Monate gebracht haben – so viele sind es. Also eine Kurzfassung: Mich macht die Arbeit in der ESA unglaublich sensibel für Menschen, die auf der Straße leben. Es ist sehr schockierend und traurig, über ihre Geschichten und Schicksale zu hören, zu erkennen, in was für einem Teufelskreis sie doch stecken und wie krank sie das Leben auf der Straße macht. Ich war zuvor sehr naiv, was mein Bild vom vermeintlichen Sozialstaat Deutschland angeht. Mir ist erst hier so richtig klar geworden, dass es in Deutschland viele Menschen gibt, die keinen Platz im System finden und nicht mitgedacht werden. Umso deutlicher ist für mich die Wichtigkeit von Einrichtungen wie der ESA geworden. Bei der großartigen Arbeit, die die Mitarbeiter*innen dort täglich leisten, ist es nicht einziges Ziel, die Situation der Patient*innen schlagartig und langfristig zu verbessern – das ist in vielen Fällen auch nicht so einfach möglich. Es geht um die kleinen Schritte, um die Momente der Besserung, wenn die Patient*innen sich von allein in die ESA wagen, weil sie Vertrauen aufgebaut haben und wissen, dass sie dort Menschlichkeit erfahren. Und sei es oftmals nur durch einen neuen Verband, eine Dusche, gekürzte Finger- und Fußnägel, einen gepflegten Bart und neue Kleidung. Genauso wie beim Kleidercafé, in dem ich freitags mitarbeite, geht es darum, Orte zu kreieren, an denen die Menschlichkeit siegt und Würde geschaffen wird.

Als junge Frau beschäftigen mich besonders die Lebenssituationen wohnungsloser Frauen. Oft müssen sie in ihren Beziehungen Gewalt erfahren, vor ihren Männern flüchten und landen so auf der Straße – in einem Umfeld, in dem körperliche Stärke regiert und in dem es keinerlei Schutz und Sicherheit für Frauen gibt. Die Aufnahme in ein Frauenhaus ist unglaublich wichtig für diese Frauen, denn dort können sie sich geschützt und aufgehoben fühlen. Jedoch gibt es oft nur begrenzt und zeitlich limitiert Plätze. Aus Angst, sich in einer Notübernachtung mit Männern einen Schlafsaal zu teilen, musste ich schon von Frauen hören, die die ganze Nacht kein Auge zumachen und ständig in Bewegung sind. Denn ein Leben auf der Straße verlangt Wachsamkeit. Wachsamkeit, um sich selbst zu schützen. Wenn Frauen auf der Straße leben, sind sie um ein Vielfaches gefährdeter als Männer.

Bei Begegnungen mit Frauen, die so tragische, berührende und schreckliche Geschichten mit sich tragen, hat mich immer wieder deren Durchhaltevermögen und innere Stärke fasziniert. Und mir erneut gezeigt, wie wichtig es ist, diese Frauen zu bekräftigen und ihnen eine zuverlässige Stütze zu sein, da sie das Gefühl von Halt oft nicht kennen. Wie wichtig es ist, sie in kleinen Schritten auf ihrem Weg in eine hoffentlich bessere Zukunft zu begleiten.

Mathilda Fischer ist „Corona-Abiturientin“, die ihren Plan von einem Freiwilligendienst im Ausland aufgrund der Pandemie ganz schön umkrempeln musste. Sie hat erkannt, dass Corona die Entwicklung von Alternativen erfordert und gibt uns einen Einblick in ihr Praktikum in der Elisabeth-Straßenambulanz in Frankfurt.