Es ist der Heilige Abend 2020, kurz nach 18 Uhr, die weißen Pavillons sind abgebaut, die besonderen Gäste schon längst wieder irgendwo in der Stadt unterwegs. Ich hatte mitgeholfen bei der Essensausgabe, Kartoffel-Salat mit warmen Würstchen in der braunen Papp-Schachtel, to go. Schätzungsweise 400 Portionen haben wir heute an diesem Heiligen Abend verteilt. Corona-Weihnachten in Evas Stall (Eva = evangelische Gesellschaft), auf der Straße, mitten in Stuttgart. Die Weihnachtsfeier für Arme, Einsame und Obdachlose gibt es seit 75 Jahren. Es ist das erste Mal, dass sie nicht in den Räumen der Diakonie stattfindet, sondern draußen. Und so hatten wir „Stallengel“, wie die Helfer freundlich genannt werden, uns warm eingepackt, gekennzeichnet mit oranger Warnweste. Als ich vor einigen Jahren schon einmal bei der Feier geholfen hatte, war es ganz einfach, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Sich ein bisschen erzählen zu lassen, wer sie sind, wie es ihnen geht. Wir hatten Zeit, saßen zusammen am Tisch. Das war heute kaum möglich. Masken, Abstand, nicht lange stehen bleiben. Trotzdem habe ich versucht, den Kartoffelsalat mit einem freundlichen Blick zu überreichen und so zuversichtlich und so deutlich wie möglich „frohe Weihnachten“ durch die Maske zu wünschen. Manchmal blieb Zeit für einen kurzen Austausch – wie mit einem Gast, der eine Kappe mit dem Logo des VFB Stuttgart getragen hat – den habe ich natürlich auf den 1:0 -Sieg im DFB-Pokal gestern gegen Freiburg angesprochen 😊. Passagere-Seelsorge heißt das in der Fachsprache der City-Seelsorge. Die Pastoral des kostbaren Augenblicks. Heute war nicht mehr möglich. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Mittlerweile ist es 22 Uhr, ich bin längst wieder zuhause – mit Tee, Kerzen, einer gut gefüllten Plätzchendose und einer Chris de Burgh-CD (die ich normalerweise nicht ohne bissige Kommentare der Kinder abspielen darf) – und sehr dankbar für ein warmes Dach über dem Kopf, für einen vollen Kühlschrank und für das Gefühl, nicht einsam zu sein; auch wenn ich diesen Heiligen Abend alleine und ohne Familie verbringe. So wie es außer mir viele tausend Andere jedes Jahr tun; in diesem Jahr sind es sicher noch einige mehr als sonst.
Es ist keine Frage, auch ich genieße jene Heiligabende, an denen die Kinder mit am Tisch sitzen und wir gemeinsam in die Kirche gehen. Über die Jahre habe ich gleichzeitig aber auch einen anderen Blick auf Weihnachten bekommen: Dieser Geburtstag von Jesus hat für mich so gar nichts zu tun mit Friede, Freude und heiler Welt. Mit Lichterglanz in der warmen Stube. Ich stelle mir vor, dass der Anfang von Weihnachten ziemlich erbärmlich gewesen sein muss. Maria und Josef, abgewiesen und gestrandet vor den Toren der Stadt, in einem kalten Stall. Fernab von zuhause. Müde, erschöpft, enttäuscht. So müssen die beiden sich gefühlt haben… Und wohl nicht nur Maria und Josef – müde, erschöpft, enttäuscht – das gilt in dieser Heiligen Nacht sicher auch für die tausenden LKW-Fahrer, die derzeit in Dover feststecken.
Wenn Weihnachten tatsächlich so gewesen ist, dann ist Weihnachten eigentlich ganz anders! Grundsätzlich und immer. Dann sind wir in diesem Jahr dem Weihnachtsgeschehen womöglich alle viel näher als sonst.
Ich glaube, es ist erst Weihnachten, wenn es anders ist. Was mich dabei trägt ist die Gewissheit, dass aus diesem erbärmlichen Anfang in Bethlehem etwas Großes geworden ist!
Frohe Weihnachten allen Leserinnen und Lesern!
Ja, Weihnachten ist immer anders. Als die Politiker so sehr auf Ausnahmen zum wichtigsten deutschen Familienfest bestanden, habe ich oft gedacht: Liebe Leute, in welcher Welt lebt ihr denn? Wie harmonisch ist Deutschland wirklich? Wen müssen wir gedanklich all‘ aussperren, damit Friede, Freude, Eierkuchen stattfindet. Ich will Weihnachten nicht vermiesen. Ich mag Tannenzweige, Weihnachtsschmuck, Weihnachtslieder, Weihnachtsgeschenke und v.a.m. Aber das macht Weihnachten doch nicht aus.
Natürlich war ich froh, dass ich Weihnachten mit meinem Sohn (36) feiern konnte. Dass wir einen schönen Abend in Andacht und mit Freude verbrachten, war ein großes Geschenk.
Aber ich habe auch schon in der Vergangenheit andere Weihnachten erlebt. Mal in einer Klinik, mal mit einem schweigenden pubertären Sohn mit Mütze tief im Gesicht. Mal mit einer Mutter, die zu viel getrunken hatte und in den Weihnachtsbaum fiel. Im ersten Ehejahr mit einem Mann, der in einer Klinik war. Das war alles weder lustig, noch besinnlich, noch harmonisch. Doch Weihnachten findet statt und lässt sich von Äußerlichkeiten nicht beirren.
Für mich ist Weihnachten das Versprechen, dass es in tiefster Dunkelheit ein Licht der Hoffnung gibt. Das habe ich als Kind gespürt, als junge Ehefrau gehofft und heute bin ich davon überzeugt.