Es ist verrückt: Der Ernst der Lage, die Unsicherheit und das Bedrohliche stehen hier im Rheinland in einem ganz eigenartigen Widerspruch zur strahlenden Freundlichkeit des Frühlingswetters! Je dunkler die Sorgen wurden, desto lieblicher leuchtete die Natur! - Bei mir in Bonn ist es seit vielen Tagen wirklich unwirklich schön:
Ein Tag für Tag unfassbar strahlend blauer Himmel beleuchtet das Glänzen und Blühen in den Gärten und an den Straßen. In unserem Garten leuchtet schon die kleine Spalierbirne weiß, bei den Nachbarn die große Felsenbirne, tief sonnengelbe Forsythien haben ihren Blühhöhepunkt fast überschritten und bei den Nachbarn zur Linken blühen Pfirsichbäumchen einer alten Sorte lieblich rosafarben. Meine Tulpen auf der Südseite ziehen die Blicke auf sich mit ziemlich verschwenderischen Rot- und Pinktönen, ich spüre unwillkürlich Freude, wenn ich hinausschaue. Und doch schwingt auch so etwas wie Beklemmung mit, als ob all das Schöne jetzt nicht sein dürfte. Darf ich das denn eigentlich, mich von Herzen freuen am Jubel der Natur?
Das warme Rot der frisch ausgetriebenen Blätter der Glanzmispel, die zu dieser Jahreszeit ihrem Namen alle Ehre macht, schimmert großflächig vom Gartenende her; der Detailblick zeigt kleine Traubenhyazinthen, „Baurebüble“, wie sie in meiner schwäbischen Heimat heißen, und sie wetteifern mit dem Himmelsblau. Narzissenglocken läuten leuchtend gelb, auch das zarte Vergissmeinnicht und erste Veilchen zeigen sich fein und doch unübersehbar. All diese Schönheit hat etwas freudig-Festliches, ja, es ist ein Festtag, jeden Morgen neu, zu jeder Tageszeit und in wechselnder Beleuchtung fast unheimlich schön! Und da ist es wieder, das Beklemmende, Hemmende, dieses eigentümlich unbehagliche, mulmige Gefühl: Darf ich das überhaupt?! Darf ich mich freuen an dieser festlichen Fülle des Schönen, die mir einfach so geschenkt wird, in diesen Wochen der Kontaktbeschränkungen, der Krankheit, der Sorgen, ja des Sterbens?
Doch was wäre denn eigentlich die Alternative: Rollladen runter, Sonnenbrille aufsetzen? Scheuklappen anlegen? Ich sage es mir heute mit Nachdruck, sagen wir es einander: Wir dürfen uns freuen, ja, wir sollten es. Betrachten wir ganz bewusst und dankbar all das Schöne und Gute. Nehmen wir es wahr, nehmen wir es auf: heute, jetzt, in Zeiten von Corona. Nicht nur weil Freude das Abwehrsystem stärkt … Freude darf, ja soll Raum haben, Dankbarkeit, dass wir die milde Frühlingsluft spüren, die warme Blütenluft riechen, die vielfältigen Vogelstimmen hören können. Wir können uns freuen, dass die Sonne alles lieblich-festlich beleuchtet und uns wortwörtlich den Tag erhellt! Doch auch das Gefühl des Unwirklichen müssen wir nicht wegschieben. Allerdings Asche über all das Schöne zu streuen, uns und anderen die Freude zu verderben, das wäre wenig hilfreich! Von der großen – und immer wieder beeindruckend klaren – Teresa von Avila gibt es das starke Zitat: „Wenn Asche dann Asche, wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn“: Wir müssen den Sonnenschein und die blühenden Bäume und dieses wunderbare Wahnsinnshimmelblau nicht mit Scheuklappen ausblenden, wir dürfen mit offenen Augen und wachen Sinnen leben! Das kann dann auch, gegebenenfalls, unseren Nächsten zugutekommen, wenn wir mit offenen Augen leben - doch das ist wieder eine andere Geschichte …
Habe heute meine Steuererklärung bearbeitet – da bin ich schon sehr froh, dass diese unangenehme Arbeit erledigt ist. Jeden Abend telefoniere ich mit 3 älteren Frauenbundfrauen und ich habe diese Dankbarkeit als Vorsitzende noch nie so kennen lernen dürfen. Kannn ich nur allen empfehlen.
Freude und Dankbarkeit sind so unendlich wichtig. Gerade in Zeiten von Corona sollten wir wahrnehmen, wenn Schönes um uns geschieht. Mir fällt auf, beim Einkaufen sehe ich viel weniger Menschen lächeln. Nein, nicht weil sie einen Mundschutz tragen, sondern weil wir uns ausweichen und meist dabei das Gesicht abwenden. Bei solchen Begegnungen fehlt mir etwas. Ich lächle gerne Menschen an und freue mich, wenn sie zurück lächeln. Auch die kleinen Schwätzchen mit den Nachbarn in unserer Straße fehlen mir. Da ist es ein Vergnügen die Blumen in den Vorgärten zu genießen, den blauen Himmel wahrzunehmen und die Wärme der Sonne zu spüren. Leben lieben in schwierigen Zeiten, jetzt erst recht.
Liebe Frau Sandherr-Klemp, mit großem Vergnügen habe ich Ihren Text inzwischen zum vierten Male gelesen. Und ich genieße Ihre feine Wortauswahl. Und ich sehe die Sonne und die Farben vor meinem geistigen Auge.
Das erinnert mich an das Bilderbuch von der Maus Frederik. Die erzählt im langen Winter den mutlosen Mäusen von den Freuden im Frühling und im Sommer, von der Ernte im Herbst. Am Ende stellen die Mäusefreunde fest: Frederik, du bist ein Künstler. Und er antwortet: Ich weiß es, ihr lieben Mäusegesichter. ( frei nach meiner Erinnerung) Die Mäuse überstehen den Winter.
Und wir werden Coronazeiten überstehen. Gehen wir mit offenen Augen durch unsere Welt.