„Und wie geht´s deiner Mutter?“ Wenn ich mich früher, vor Corona, mit einer lieben Nachbarin gelegentlich zu einem Cappuccino zusammengesetzt habe, vergaßen wir eigentlich nie, einander nach Wohl und Wehe unserer Mütter zu fragen. Und immer gab es etwas zu berichten, manchmal Erfreuliches, manchmal Beunruhigendes, bisweilen auch nur das übliche Klein-Klein des Alters-Alltags.

Da sie beide verwitwet sind, leben unsere Mütter alleine in ihren groß gewordenen Häusern. Die Mutter meiner Nachbarin allerdings musste Anfang März wegen eines Schlaganfall-Verdachts ins Krankenhaus – und die Corona-Krise übernahm das Drehbuch! Vorher wurde sie rund um die Uhr von einer Haushaltshilfe, im monatlichen Wechsel mit anderen Frauen, in ihrem Alltag unterstützt. Diese Helferin kehrte zurück in ihre polnische Heimat, und die anderen Haushaltshilfen konnten nicht mehr einreisen! So war niemand mehr da, der die alte Dame versorgen konnte. Ein kurzzeitiger Pflegeheim-Aufenthalt schien die beste Lösung. Mit Engelszungen versuchte meine Nachbarin, ihre Mutter davon zu überzeugen, doch diese wollte eigentlich nur noch nach Hause. Schweren Herzens folgte sie dann doch dem Rat ihrer Kinder ­ und dann kam der Lockdown! Nun konnte niemand mehr die alte Dame in der für sie fremden Umgebung besuchen. Niemand konnte ihr das Eingewöhnen erleichtern: was für ein Jammer! Nicht auszumalen, was das für sie bedeuten  mag, die ja noch niemanden im Haus kannte, zunächst noch kein Telefon im Zimmer hatte und auch mit dem Handy nicht gut zurechtkam! Ich fürchte: ein Gefühl der Verlassenheit, der Einsamkeit, gar des Abgeschobenseins. Meine Nachbarin war und ist sehr traurig und tief besorgt; sie ist immer wieder den Tränen nahe, wenn sie mir von ihrer Mutter erzählt und fühlt sich irgendwie schuldig, auch gegen besseres Wissen.

Meine Gedanken gehen zu den vielen Menschen, die ihre Situation, anders als die Mutter meiner Freundin, noch nicht einmal einsehen und verstehen können. Die alte Dame, die jetzt auf unbestimmte Zeit im Heim ist, versteht ja im Prinzip, warum sie nicht besucht wird, auch wenn das Gefühl der Verlassenheit wohl nicht einfach mit dem Verstand wegzuwischen ist. Was ist aber mit den Menschen mit geistigen Einschränkungen, mit dementiellen Erkrankungen? Deren Einsamkeit geht mir besonders nahe. Vielleicht können wir alle noch kreativer werden in den Zeichen und Signalen, die wir den Betroffenen im Umfeld zukommen lassen.

Meine eigene Mutter hat sich Ende Januar, vor Corona, gegen ein Seniorenheim und für eine Haushaltshilfe – ab Juni – entschieden: nach unserem lang geplanten, gemeinsamen Urlaub am Bodensee, auf den wir uns sehr gefreut haben.  Nun wird, nach menschlichem Ermessen, aus unserer Ferienwoche im Mai wohl nichts werden, doch ich bin dankbar, meine Mutter in ihrer gewohnten Umgebung zu wissen. Da meine eigenen Kontakte derzeit extrem reduziert sind, ich keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr nutze und zudem recht ortsfest bin, wage ich auch, sie weiterhin zu besuchen, natürlich mit Sicherheitsabstand. Doch was ist richtig? Die Sorge, das schlechte Gewissen, das wabert auch in mir, und das wird mich – und wahrscheinlich viele andere in ähnlichen Situationen – wohl noch länger begleiten.