Der Moment, wenn ein Kindergartenkind am Ende des Schultags von der Mami oder dem Papi freudestrahlend in die Arme genommen wird, er ist unbezahlbar. Genau diesen Moment dürfen meine Mitschwester Sr. M. Daniela, Kindergartenleiterin, und ich zur Zeit fast jeden Tag aus nächster Nähe erleben. Denn seit unser Kindergarten St. Charles hier in Jerusalem mit strengen Hygiene- und Distanz-Auflagen nach den Corona-Shutdown wieder geöffnet hat, übernehmen wir beide abwechselnd morgens und nachmittags den Dienst der Wächterin auf dem Schulhof. Das Gehalt für den Sicherheitsmann, der vorher den ganzen Tag aufpasste, dass nur berechtigte Personen unser Schulgelände betreten, können wir uns momentan nicht mehr leisten. Deshalb „fehlen“ wir bei den Gebetszeiten unserer Gemeinschaft und empfangen stattdessen morgens die Kleinen, die sich brav Fieber messen lassen und uns automatisch das Blatt mit der von den Eltern unterschriebenen Gesundheitserklärung entgegenhalten. Die Eltern dürfen das Gebäude nicht mehr betreten, sondern nur maximal bis zur Gartentür des Spielplatzes kommen.
Normalerweise betreuen wir  130 palästinensische Kinder, seit der Wieder-Eröffnung vor wenigen Wochen kommen davon 25 bis 40 Kinder pro Tag. Immerhin! Im Vergleich mit anderen Einrichtungen haben wir sogar eine hohe Anwesenheitsquote. Und die Corona-Krise beschert uns traumhafte Arbeitsbedingungen! Nur neun Kinder dürfen jetzt in einer Gruppe / Klasse sein, damit sie genug Abstand voneinander haben; sonst sind es bei uns bis zu 35. Aber da gibt es auch die wesentlich größere Schattenseite der fast 90 Kinder, von denen wir seit Wochen nichts mehr gesehen und gehört haben: Es gibt Fälle, in denen die Mutter die Kinder gerne bringen würde, aber ihr Familienclan lässt sie nicht. Unsere Schulbusse sind zur Zeit ausgesetzt, es ist nur noch privates Bringen und Holen erlaubt; manche Eltern haben dazu aber keine Möglichkeit. Wieder andere werden uns gegenüber renitent und wollen das Schulgeld zurückerstattet haben, weil sie das Kind nicht mehr bringen – einige wenige darunter, die ums blanke Überleben der Familie kämpfen.
Durch die Corona-bedingten Auflagen hier im Land ist unsere tägliche „Kindergartenfamilie“ deutlich kleiner geworden, dafür aber umso herzlicher und familiärer: Die Freude in den Augen eines kleinen Mädchens und ihrer Mutter, wenn wir ihrer mitgebrachten Puppe auch das Fieber messen; das deutsche „Guten Morgen“ oder „Aufwiedersehen“, das uns die arabischen Eltern und Kinder voller Stolz zurufen; die Mami, der Papi, oder wie vor Kurzem geschehen, der kleine dreijährige Bruder, die vor dem Gartentor warten, bis die ersehnte Tochter, der Sohn oder das Schwesterchen oder Brüderchen in ihre offenen Arme läuft und von ihnen vor Freude kurz hochgewirbelt wird. Das gibt es in dieser Häufigkeit doch sonst nur in der Ankunftshalle am Flughafen zu sehen, so wie im Film „Tatsächlich Liebe“ („Love actually“). Es tut unheimlich gut, dass diese Nähe in diesen herausfordernden Zeiten noch möglich ist, für die Kinder, für die Eltern und für alle anderen Augenzeugen, die – so wie ich – nicht anders können als darüber selbst vor Freude zu strahlen.