Ich fahre mit der U-Bahn Richtung Stuttgart-Degerloch. Dort ist mein Büro. Die Bahn ist nur halbvoll. Dennoch ist mir unwohl. Ich habe meine Maske trotz der Hitze vor Mund und Nase. Das ist unbequem, keine Frage.
Suchend schaue ich mich um und finde eine Vierer-Sitzgruppe für mich alleine. Die Bahn ruckelt an und fährt los. Weiter hinten im Wagen sind drei Jugendliche. Sie machen Lärm. Von Maskenpflicht halten sie nichts. Bei einem Jugendlichen hängt die Maske unterm Kinn. Die anderen scheinen keine dabei zu haben. Eine Frau spricht sie an. Der Wortführer pöbelt: „Dann ruf doch die Polizei!“ Die Frau wird energisch. „Soll ich die Polizei rufen? Braucht ihr das? Ich mache es!“ Die Jugendlichen maulen. Bei der nächsten Station steigen sie aus. Sie grinsen sich an und fühlen sich stark. Ihr Testosteron-Haushalt scheint aus den Fugen zu sein. Doch hinter ihrer coolen Fassade ahne ich Unsicherheit. Pubertät in Corona-Zeiten ist schwer. Die Auflehnung gegen alle erwachsene Vernunft arbeitet sich an den Corona-Beschränkungen ab.
Die U-Bahn fährt weiter. Ich betrachte einen Mann mit schicker Anzugshose und maßgeschneidertem Hemd. Er hat einen Koffer dabei. Ein Geschäftsreisender, denke ich. Er hat eine Maske im Gesicht, doch bei näherem Hinschauen stutze ich. Die Nase ragt über den Maskenrand. Wer die Maske so trägt, kann sie gleich weglassen. Ich schaue mich um. Auch andere Fahrgäste haben sich auf diese Weise Erleichterung verschafft. Ich ärgere mich. Unvernunft scheint jedenfalls nicht an Pubertät gebunden zu sein.
An der nächsten Station setzt sich ein 2m-Mann neben mich. Schwer lässt er sich auf den Sitz fallen. Es wäre noch viel Platz anderswo, aber nein, er braucht den Platz direkt neben mir. Unser Abstand von Kopf zu Kopf beträgt 50 cm. Mir wird eng. Ich stehe auf und flüchte. Laufe durch den ganzen Wagen und entdecke ganz hinten noch eine freie Vierer-Sitzgruppe. Noch eine Haltestelle, dann habe ich es geschafft. Ich steige erleichtert aus. Jetzt an die frische Luft, denke ich.
In mir ist Groll. Zu viele Menschen haben keine Lust mehr sich einzuschränken. Ihnen ist es egal, dass die Infektionszahlen gerade in die Höhe klettern. Während die Demos gegen Corona-Einschränkungen von Stadt zu Stadt wandern, wächst in mir der Wunsch nach einem strengeren Durchgreifen gegenüber allen, die es lässig nehmen. Sie gefährden nicht nur sich, sondern alle anderen auch.
Ich denke an die Risikogruppen und an die Menschen, für die ein zweiter Lockdown das wirtschaftliche Aus bedeuten würde. Und ich bange um das neue Schuljahr, das bei uns in einem Monat beginnen soll. Die Krise ist alles andere als ausgestanden, auch wenn das schön wäre. Jetzt zählen Menschen, die nicht aufhören achtsam zu sein und Rücksicht zu nehmen.
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