Prof.in Dr. Ute Leimgruber schreibt:

„Ich tat Dinge, die nichts mit dem zu tun hatten, was ich wollte.“ Knapp und pointiert bringt es eine der 23 Betroffenen auf den Punkt, die in „Erzählen als Widerstand“ davon schreibt, wie ein Priester sie über Jahre hinweg sexuell und spirituell missbrauchte. „Ich machte, gegen meinen Willen, das, was er mir (…) als seinen Wunsch mitgeteilt hatte.“ (137)
Im weltlichen Strafrecht ist eine sexuelle Handlung, die gegen den Willen eines Menschen geschieht, strafbar. Sexuelle Selbstbestimmung ist ein verbindliches Rechtsgut. Das ist gut so.
Gleichzeitig entsteht in der allgemeinen Wahrnehmung ein Problem: wenn eine Frau nicht nein sagte – wollte sie „es“ dann also? Hat sie vielleicht sogar zugestimmt, wenn sie „es“ nicht ausdrücklich ablehnt?

Es ist eine irre führende Unterstellung, die Frau hätte nein sagen können – und diese Unterstellung muss entlarvt werden. Es gibt viele Gründe, warum Frauen auch dann sexuelle Handlungen nicht ausdrücklich ablehnen (können), selbst wenn sie gegen ihren Willen stattfinden. Dazu gehört: Angst vor dem Täter und den Folgen eines Neins; Identifikation mit dem Täter und das Gefühl, Mitschuld an dem Geschehenen zu tragen; traumatische Erlebnisse in der Kindheit und die Unfähigkeit, Widerstand zu leisten; emotionale, finanzielle oder psychische Abhängigkeit u.v.m.
Die Aussage, man könne nein sagen, suggeriert aber auch: Ein „Nein“ wäre als „Nein“ verstanden worden. Ein „Nein“ hätte den Missbrauch verhindert. Doch so ist es nicht! Viele der Frauen in „Erzählen als Widerstand“ erzählen davon, dass sie dem Täter ihren gegenstehenden Willen sogar mitgeteilt haben. Und die Täter? Keiner sagt: „Ach so, na klar, das willst du nicht, bitte entschuldige, das akzeptiere ich natürlich…“ Vielmehr setzen sich die Täter über den Willen des Opfers hinweg, sie ignorieren ihn oder schreiben ihn sogar mental oder spirituell um. Eine der Betroffenen sagt: „Ich habe oft geweint, mich gewunden. Er sagte: ‚Ich dachte, das wäre Teil des Vorspiels.‘“ (61)

Ein Weiteres: Wenn eine Frau sexualisierte Gewalt erleidet, muss sie sich auch deswegen immer mit der Frage nach dem Nein auseinandersetzen, weil darin mitschwingt, dass die reguläre Reaktion auf sexuelle Avancen grundsätzlich ein Ja sei. Als müsse das Nein ausdrücklich und gesondert verbalisiert werden. Es wird impliziert, es wäre es die Aufgabe der Frau, die Einwilligung zu widerrufen. Als müsse sie entscheiden, dass es nicht weitergeht. Als wären die Türen für Männer grundsätzlich immer offen – bis eine Frau sie durch ihr Nein zuwirft. Tut sie es nicht, trägt sie gewissermaßen „Mitschuld“ am Geschehenen. Auch hier gilt: so ist es nicht! Dass Täter mit ihrem Missbrauch davon kommen, liegt immer auch an einer Umgebung, die die Taten und die Beteiligten in bestimmter Weise deutet. Als wäre das Handeln des Opfers einer der Gründe, die den Täter in diese Lage gebracht haben. Die Zuweisung („du hättest doch nein sagen können“) ist Teil einer perfiden Täterstrategie, die sich darauf verlassen kann, dass der Anteil des Opfers am Missbrauch mindestens genauso geprüft wird wie der des Täters.

Das Buch „Erzählen als Widerstand“ versammelt 23 Texte von Frauen, die als Erwachsene Opfer von sexuellem und/oder spirituellem Missbrauch in der Kirche geworden sind. Und auch wenn vieles kirchlich und theologisch gedeutet werden muss, so ist doch klar: die Erzählungen weisen über den Raum der Kirche hinaus. Sie machen klar, wie eklatant, vielfältig und perfide das Selbstbestimmungsrecht von Frauen verletzt wird – spirituell und sexuell, über alle Alters- und Bildungsgrenzen hinweg. Kirche ist Teil der Gesellschaft, sie ist kein safe space. Es sind nicht nur einzelne Täter, die Gewalt an Frauen verüben, die frauenfeindlich agieren, die ein Nein nicht als ein Nein akzeptieren. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dies offen zu legen.

Am 25.11., dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, findet die Präsentation des Buches statt: www.erzaehlen-als-widerstand.de

 

Prof.in Dr. Ute Leimgruber ist eine der vier Herausgeberinnen des Buches. Sie ist Professorin für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Regensburg und Mitglied der Theologischen Kommission des KDFB.