„Man sieht oft etwas hundert Mal, ehe man es wirklich sieht.“ Recht hat er, der Christian Morgenstern. Genau so ist es mir heute gegangen. Nach mehreren Tagen zu Hause war der Gang in die Stadt einfach mal wieder nötig. Ziel war der örtliche Drogeriemarkt. Kaum Autos auf der Straße, ungewohnte grüne Welle und mindestens genauso ungewohnt: ein Parkplatz gleich in der obersten Etage der Tiefgarage. Auf dem Weg in die Stadt ein Sonntagmorgengefühl: Nur wenige Menschen sind unterwegs, alle gehen sich höflich und weiträumig aus dem Weg, oft mit einem Lächeln, jetzt aber auch teilweise mit Mundschutz. Überall in der Stadt ist Vogelgezwitscher zu hören. Als ich den Kopf hebe, um nach den Verursachern dieses fröhlichen Gesangs zu suchen, fällt mein Blick auf einen Hausgiebel, an dem ich schon unzählige Male vorbeigekommen bin, aber offensichtlich noch nie nach oben geschaut habe. Abrupt halte ich an, denn da oben, unten am Dachüberstand, steht etwas geschrieben. Von meinem Standpunkt aus kann ich es nicht lesen, also gehe ich ein paar Schritte weiter und drehe mich ein wenig. Ja, tatsächlich, da steht: „Schütz, o Gott, dies Haus vor Not und Feuer, vor Obrigkeiten und zu hoher Steuer.“ Ich muss lachen – und das weckt wohl das Interesse eines Ehepaars, das gerade vorbeikommt. Auch die beiden haben diesen Schriftzug noch nie gelesen. Wir sind uns einig: Man möchte heute fast noch hinzufügen „… und vor dem Corona-Virus“. Ich setze meinen Weg zum Drogeriemarkt fort und freue mich über diese Entdeckung und das gemeinsame Lachen. Und frage mich gleichzeitig, welche kleinen Geheimnisse diese Stadt noch auf Lager hat. Ich nehme mir vor, in Zukunft häufiger etwas langsamer zu gehen, mit offenen Ohren und neugierigen Augen. Wer weiß, was ich in meiner Stadt auf diese Weise noch alles entdecke.