Am Sonntag ist es soweit. Es ist Wahltag. Bei uns in der Familie ist es immer ein kleines Ritual –ähnlich einem Kirchgang-, dass wir gemeinsam einen Spaziergang zum Wahllokal unternehmen. Das macht es ein bisschen feierlich. Unterwegs nörgelt meistens unser Sohn, dass er immer noch nicht wählen darf. Jetzt ist er 13 und weiß nicht, ob es vielleicht das nächste Mal schon so weit sein könnte…

Die Stimmung im Wahllokal empfinde ich immer als sehr ernsthaft. Jeder Schritt der Prozedur ist –dank der vielen Ehrenamtlichen- wohlorganisiert. Da kann nichts schiefgehen. Da gibt es auch keinerlei Chance auf Manipulationen wie jüngst in Russland. Gott sei Dank.
Die zwei Kreuze auf dem Zettel sind schnell gesetzt. Und schon stehen wir wieder draußen mit dem aufregenden Gefühl, ein klitzekleines bisschen Anteil zu haben am Ausgang der Wahl. Und abends sitzen wir dann mit klopfendem Herzen um 18 Uhr vor den ersten Hochrechnungen. Mal sehen, wie uns am Sonntag dabei zumute sein wird…

Zwei Kreuze machen. Das ist ja wahrlich ein eher kleiner, wenn auch äußerst wichtiger Beitrag zur Demokratie und Politik unseres Landes. Mir ist sehr bewusst, dass Frauen anderer Länder in einer völlig anderen Lage sind. Heute lese ich in der Zeitung von den afghanischen Frauen, die seit dem Putsch der Taliban um ihre Rechte kämpfen. Sie gehen auf die Straße in schwarzen Gewändern, ausgestattet lediglich mit Plakaten und ihrem Mut, für die Frauen Afghanistans einzustehen. Ich versuche mir vorzustellen, was in ihrem Inneren vorgeht. Wie gehen sie um mit der abgrundtiefen Angst, was aus dieser Demonstration folgt, ob sie bedroht und geschlagen oder gar mitgenommen und eingesperrt werden in dunkle Verliese, in denen sie den Männern der Macht hilflos ausgeliefert sind? Oder haben sie das Gefühl, sie können eh nichts mehr verlieren?
Unvorstellbar mutig finde ich diesen Einsatz für die Rechte und Bildung von Mädchen und Frauen in einem Land, in dem aus dem Frauenministerium ein Ministerium zur Erhaltung der Tugend und Unterdrückung des Lasters geworden ist. Keiner weiß, wann die Schulen für jugendliche Mädchen wieder geöffnet werden. Keiner sagt, wann Frauen wieder ihrem Beruf nachgehen können. „In der nahen Zukunft, so Gott will,“ sagt ein Taliban-Sprecher laut Bericht der Zeitung. Der Gott der Taliban scheint aber eher nicht zu wollen.

Ich bewundere alle Frauen in der Welt, die sich trotz größter Gefahren beherzt in die Politik ihrer Länder einmischen. Und muss mir eingestehen, dass ich vermutlich so tapfer niemals wäre. Besonders beeindruckend sind für mich die standhaften Frauen aus Belarus. Bilder ihrer „großen Parade der weiblichen Friedenstruppen“ gingen um die Welt, zeigten sie tanzend, mit Blumen „bewaffnet“, Herz-zeigend vor den finsteren, maskierten Polizei-Truppen ihres Landes, um gegen Machthaber Lukaschenko zu demonstrieren. Maria Kolesnikowa, die Oppositionspolitikerin mit den raspel-kurzen blonden Haaren, die lange Zeit in Stuttgart lebte, ist inzwischen für 11 Jahre, vielleicht auch länger, in einem Gefängnis weggesperrt. 11 Lebensjahre unter Entbehrung, Gewalt, vielleicht Folter – was für ein Einsatz einer Frau, die immer sagte: „Alles wird gut!“

Ich möchte die Frauen aus Afghanistan und aus Belarus am Sonntag in meinem Herzen mit mir nehmen, wenn ich meine Kreuze auf den Wahlzettel setze. Ich habe die Wahl, sie nicht. Ich hoffe wirklich sehr, dass viele Frauen in unser Parlament einziehen, weil sie damit den weiblichen Blick in unsere Demokratie einbringen, der so wichtig ist. Vor allem aber hoffe ich, dass wir als reiches, einflussreiches Land diese mutigen, tapferen Frauen vom anderen Ende der Erde niemals aus unserem Blick verlieren!