Vor zwei Wochen habe ich meinen ganz alten Füller aus dem Schrank geholt, um einen besonderen Text zu schreiben. Wahrscheinlich habe ich ihn zwanzig Jahre nicht mehr benutzt, er war längst eingetrocknet. Genau genommen ist es nicht mein Füller; ich hatte ihn als Jugendliche bei meinen Eltern entdeckt. Es muss ein Werbegeschenk gewesen sein, ein Firmenname war eingraviert – aber es war ein Mont Blanc-Füller mit Tinteneinzug und einer vergoldeten Feder. Den habe ich damals zu mir genommen und hüte ihn seither wie einen Schatz. Nun habe ich dieses besondere Schreibwerkzeug ausgespült, ein neues Tintenfass gekauft und es war tatsächlich sofort wieder einsatzbereit.

Mit diesem Füller habe ich das Kapitel 22 aus dem Buch des Propheten Jesaja abgeschrieben. Auf zwei weiße Blätter, links und rechts Rand gelassen. Denn meine Textzeilen werden zusammengebunden mit denen von über 1.100 Schreiberinnen und Schreibern. Wir und sie alle haben zusammen die St. Galler Corona-Bibel gestaltet. Die Idee dazu hatte ein evangelischer Pfarrer aus St. Gallen in der Schweiz. „Dein Wort. Ein Licht. Auf unseren Wegen“. So hat er das Projekt überschrieben. Denn in Krisenzeiten werden die Geschichten menschlicher Hoffnung neu geschrieben. Über eine Doodle-Liste konnte man sich für ein biblisches Kapitel eintragen. Als ich auf das Projekt aufmerksam geworden bin, gab es kaum mehr Auswahl. Ich habe das nächste freie Kapitel angeklickt, das war Jesaja 22. Ich hatte keine Ahnung, was dort geschrieben steht. Es war die „Botschaft über das Hinnom-Tal“. Der Text gehört zu den Gerichtsworten über die Nationen, denn nicht nur Juda, sondern auch die gottlosen heidnischen Völker in der Umgebung haben das Gericht Gottes erfahren. Es ist ein sehr düsterer Text. Beim Lesen hatte ich den Eindruck, ich bin mitten im Krieg: Tod, Schmerz, Schuld, Entsetzen, Zerbrechen, Feinde, Waffen, Weinen und Klagen. Dazu nichts als Vorwürfe wegen Hochmut und überheblichen Verhaltens. Erst am Ende des Kapitels keimt Hoffnung auf, als Jesaja das Kommen eines neuen Königs vorhersagt. Einer, der gut ist und es gut mit den Menschen meint. Aber wenige Sätze später ist die Hoffnung schon wieder zerschlagen: Auch der Gute geht zugrunde, weil viele Andere, Ungute, sich an ihn klammern. Mein Text bleibt düster, da gibt es nichts zu deuten. Zunächst war ich ein wenig enttäuscht, gerne hätte ich etwas Schönes, etwas Poetisches aus den Psalmen abgeschrieben. Die Möglichkeit, einen Kommentar unter die selbstgeschriebenen Zeilen zu setzen, habe ich nicht wahrgenommen. Es fiel mir nichts ein. Und Verzierungen, wie ich sie auf großartige Weise bei anderen, im Netz zu bestaunenden Texten der Corona-Bibel gesehen habe, fand ich fehl am Platz. Also steckte ich den Text so nüchtern wie er war in den Umschlag und schickte ihn auf den Weg nach St. Gallen. Denn an diesem Wochenende, an Pfingsten, ist Abgabetermin für alle Texte.

Erst anschließend habe ich angefangen weiterzulesen und mich mit Jesaja zu beschäftigen. Das Schreiben hat mich in Verbindung gebracht mit unbekannten Texten und vergangenen Zeiten. Mit der Verzweiflung von Menschen, mit ihrer Hoffnung und mit der Freude über eine neue und andere Zeit. Ich habe wieder einmal (neu) davon erfahren, dass wir lernen müssen, dass wirkliche Liebe zum Leben heißt, es anzunehmen wie es ist. Vielleicht zwingt uns Corona in diesen Monaten genau dazu. Denn die Pandemie zeigt uns, das Leben ist verletzlich, zerbrechlich, endlich – und doch gleichzeitig so voller Glaube, Liebe und Hoffnung. Und Manches muss erst vergehen, bevor Neues beginnen kann. Bevor wieder Geburts-Tag gefeiert werden kann. Wie an Pfingsten.

Über dieses Lesen und Nachdenken habe ich mich schließlich mit meinem Kapitel „versöhnt“. Und immerhin habe ich mich redlich bemüht, die düsteren Worte wenigstens so schön ich konnte niederzuschreiben. Ein bisschen stolz bin ich in jedem Fall, dass ich mit meiner Handschrift Teil dieses besonderen Werks sein darf.

Die Corona-Bibel soll als Zeitzeugnis im kommenden Frühjahr an die St. Galler Stiftsbibliothek übergeben werden.

Coronabibel