Es ist Mittwochabend. 100 Frauen strömen auf den Platz hinter der Kirche St. Georg in Stuttgart. Schülerinnen mit Warnwesten kontrollieren ihre Namen. Wir haben uns viel Mühe gegeben, Corona-konform Gottesdienst zu feiern. Statt wie sonst die Kirche mit momentan nur 55 Sitzplätzen zu nutzen, bleiben wir im Freien und probieren ein neues Format aus: „Frauenkirche to go“. Die Frauen haben Klappstühle dabei, Picknickdecken, Sitzkissen. Die Wiese hinter dem Hof wird zum Lagerplatz, die Mauer zur willkommenen Sitzgelegenheit. Wir mahnen, den Abstand zu halten. Es nützt nicht so viel, die Frauen freuen sich, sich endlich wiederzusehen.

Es ist ein besonderer Gottesdienst auch in anderer Hinsicht. 20 Schülerinnen des Mädchengymnasiums St. Agnes wirken mit. Ein Großteil hat seit einem Tag das Abi in der Tasche. Ich bin berührt, dass diese jungen Frauen zu uns kommen, statt Party zu machen.

Der Gottesdienst beginnt. Der Leistungskurs Musik legt sich ins Zeug. Sechs Instrumente und eine Sängerin zaubern eine wunderbare Atmosphäre in diesen lauen Sommerabend. Später wird eine Lehrerin mit zarter Stimme ihr selbstgeschriebenes Lied „Seelenflügel“ singen und uns damit eine Gänsehaut verursachen.

Unser Thema für diesen Abend heißt „Lebensträume“. Wir schicken Gedankenimpulse zu den Gottesdienst-Teilnehmerinnen. Maria Magdalena tritt auf. Heute ist ihr Gedenktag, und sie darf uns ihre Botschaft verkünden. Es ist die Botschaft einer starken Frau, die von Männern abgewertet wurde und dadurch trotzdem keine Leuchtkraft eingebüßt hat. Uns beschreibt sie, welche Lebensträume sie hatte und welche Wendung ihr Leben mit dem Tod und der Auferstehung Jesu nahm. Wir ahnen: Es gibt nicht nur unsere Träume, sondern auch Gottes Traum mit uns.

Dann schicken wir die Frauen los auf einen persönlichen Weg. Liebevoll haben wir Papiertüten für sie gepackt: Fragen sind in ihnen zu finden über die eigenen Lebensträume, dazu Impulse verschiedenster Art. Und Süßigkeiten, damit die Frauen in jeder Hinsicht gestärkt werden. Viele gehen in den nahen Pragfriedhof. Zwischen hohen Bäumen und alten Grabmonumenten suchen sie Ruhe, um ihre Gedanken zu ordnen. Die Fragen gehen tief: Wovon habe ich als junger Mensch geträumt? Was ist Wirklichkeit geworden? Welchen Traum habe ich längst begraben? Welcher Traum möchte neu geweckt werden?

Die Zeit verfliegt, die Frauen kommen zurück. Schülerinnen nehmen sie in Empfang und stiften sie in kleinen Gruppen zum Gespräch an. Jung und Alt tauschen sich mit großer Ernsthaftigkeit über das aus, was als Wunsch im tiefsten Herzen verborgen ist. Es ist ein eindrücklicher Dialog zwischen den Generationen.

Am Ende kommen wir nochmals alle zusammen. Beten. Bitten Gott um Segen für unsere Träume und Wege. Zum Segensgebet halten wir unsere Hände hoch. Es ist eine Geste der Ergebenheit, der Verletzlichkeit und Offenheit. Möge Segen in uns hineinströmen und von uns zu anderen gelangen, heißt unsere Bitte.

Der Gottesdienst ist vorbei. Ich überlege, wie ich ihn empfunden habe, und bin erst nicht sicher. Der große Aufwand der Corona-Vorsorge, das Ausmessen des Platzes und Abkleben der Wege war unnötig. Die Frauen haben sich die Freiheit genommen, ihre Abstände selbst zu definieren.

Aber viel mehr noch geht mir nach, dass dieser Gottesdienst in seiner Offenheit ein neues Kapitel aufgeschlagen hat. Wir haben nur einen Rahmen geschaffen, damit die Frauen ihren ganz eigenen spirituellen Weg gehen konnten. Sie haben diesen Raum mit Freude genutzt, ganz selbstverständlich, mündig und selbstbewusst. Das macht mich sehr froh. Ich weiß: Sie brauchen keine Kirche, die sie gängelt und kleinmacht, wie in der jüngsten Instruktion aus Rom. Sondern eine, die ihnen den Glauben zutraut.

Corona beschleunigt unsere Schritte zu einer „Kirche to go“, einer Kirche, die sich endlich auf den Weg in die Zukunft macht. Wir Frauen gehen schon mal vorneweg.