Matthias Dörr, Renovabis, schreibt:

Die Nachricht vom russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 war für mich ein Schock. Natürlich mussten wir da mit einer Aggression rechnen. In den Wochen zuvor wurden von Russland immer mehr Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen. Manöver wurden abgehalten. Hinzu kam eine immer aggressivere Rhetorik Putins und seiner Leute. Doch bis zuletzt blieb die Hoffnung, dass ein Krieg abgewendet werden könnte, einerseits durch Dialog und andererseits durch die Androhung des Westens von Sanktionen. Doch dann wurde über Nacht das, was wir uns nicht vorstellen konnten, Realität, traurige Realität. Ein blutiger Krieg in Europa. Und dieser Krieg fühlt sich so nah an. Zum einen erreichen uns in unseren Wohnzimmern über das Fernsehen und über unsere Smartphones schwer erträgliche Bilder von zerstörten Städten, verängstigten Frauen und Kindern, Toten auf den Straßen. Zum anderen kommen Menschen in größerer Zahl zu uns, die vor dem Schrecken des Krieges in ihrem Heimatland fliehen und bei uns Schutz suchen.

Der Krieg gegen die Ukraine bedeute eine Zeitwende, ist nun zu hören. Ja, das ist er wirklich. Nicht nur für die große Politik, sondern auch für alle, die mit dem Osten Europas verbunden sind, familiär, durch Freunde oder beruflich. In der katholischen Kirche steht in besonderer Weise das Osteuropahilfswerk Renovabis für die Verbindung zwischen West und Ost. Ich darf für Renovabis als Leiter der Inlandsabteilung tätig sein. 1993 wurde Renovabis, die Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken für die Menschen im Osten Europas gegründet. Entstanden ist seither ein stabiles, tragfähiges Netzwerk, gerade auch in die Ukraine. Sie ist von Beginn an unter den 29 „Renovabis-Ländern“ das Land mit den meisten Projekten. In den nun fast drei Jahrzehnten wurden allein dort 4.000 Projekte mit einem finanziellen Gesamtvolumen von mehr als 125 Mio. Euro gefördert. Das Spektrum reicht dabei von kirchlich-seelsorglichen über sozial-karitative Projekte bis hin zu Bildungs- und Medienvorhaben.

Der Krieg hat alles verändert. Seit dem Beginn des Krieges erreichen uns in der Renovabis-Geschäftsstelle in Freising täglich Berichte von Partnern aus der Ukraine. Projekte im Osten des Landes sind nicht mehr möglich. Gebäude, die mit Unterstützung von Renovabis für soziale und pastorale Anliegen erbaut wurden, wurden ebenfalls beschossen und von Raketen getroffen. Aus dem Westen des Landes kommen Berichte von Partnern, wie sie alle ihre Räumlichkeiten öffnen, um Flüchtenden Unterkunft und Verpflegung zu gewähren. Mut machende Zeugnisse gelebter christlicher Nächstenliebe.

Ein Partner aus Ivano-Frankivsk berichtete uns einem fünfjährigen Mädchen, das mit seiner Familie Schutz im Keller des dortigen St. Basilius-Gymnasiums gefunden hat. Die ausdruckstarken Bilder, die uns von ihr geschickt wurden, geben dem Leid ein Gesicht. Gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem neunährigen Bruder machte sie sich direkt mit dem Ausbruch des Kriegs auf die Flucht. Nur in Hausschuhen stiegen sie hastig ins Auto und verließen ihre Heimatstadt Irpin. Sie liegt im Nordwesten von Kyiv (Kiew) und war lange Zeit umkämpft. Sie kamen nach Ivano-Frankivsk im Westen. Weil ihr Vater verletzt ist, kann er momentan keinen Militärdienst leisten. Die Familie ist somit zusammen – eine Ausnahme in diesen Kriegszeiten. Geprägt sind die Tage auch dort von immer wieder ertönenden Sirenen. Bei Luftalarm sucht das Mädchen wie viele andere auch Schutz im Keller der Schule. Eines der Fotos (siehe oben) ist dort entstanden. Sie lächelt, doch ihr Blick zeigt eine Leere durch das, was sie erleben musste. Hilfe bekommt sie und ihre Familie von den Menschen vor Ort. Die Solidarität ist groß, dennoch braucht es weitere Unterstützung. Hier und an weiteren Orten hilft Renovabis seinen Projektpartnern in der Ukraine und in den angrenzenden Ländern finanziell, damit diese sich um Menschen kümmern können, die auf der Flucht oder an ihrem Wohnort in Not geraten sind – insbesondere Kinder, alte und kranke Menschen. Renovabis unterstützt die Partner vor Ort mit Ausstattungshilfen, wie Isomatten, Kissen, Decken, Notstromaggregate, Batterien, Ladegeräte, sowie Geld für Verpflegung und Medikamente.
Die Bilder des Mädchens auf der Flucht bewegen mich auch als Vater von drei Kindern. Ebenso bleiben mir die oft im TV zu sehenden Szenen in Erinnerung, wie sich Männer und Väter von ihren Frauen und Kindern verabschieden müssen. Die Vorstellung ist schrecklich, die Familie verlassen zu müssen, um für die eigene Freiheit und die Freiheit des Landes kämpfen zu müssen. Ein Abschiednehmen in der Unsicherheit, ob man sich überhaupt mal wieder in die Arme schließen kann.

Die Bilder und Berichte des Krieges in der Ukraine erzeugen in mir ein Gefühl von Ohnmacht, von großer Hilfslosigkeit. Ich kann für Frieden beten, aber mehr nicht beitragen, um diese Gewalt zu beenden. Da ist es zumindest tröstlich, dass ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen bei Renovabis dazu beitragen kann, zumindest die Not der Menschen in der Ukraine und auf der Flucht zu mindern, und ihnen unsere Solidarität in Worten und Gebet zu zeigen. Dies tut auch der KDFB mit seiner Aktion „Frauen.Frieden.Hoffnungslicht“. Initiativen wie diese sind es, die Renovabis in die Lage versetzen, den Partnern im Osten zur Seite zu stehen.
Danke und „Vergelt´s Gott“ dafür.

Matthias Dörr

Matthias Dörr ist Leiter der Inlandsabteilung bei Renovabis.