Eine tiefe, geistliche Kirchenbindung prägte meine Mutter ihr Leben lang. Im damals evangelischen Luftkurort Freudenstadt im Schwarzwald aufgewachsen, erlebte sie offenbar einen weniger von starren Traditionen geprägten Katholizismus als andere ihrer Generation. Bei aller leidenschaftlichen, solidarischen Konfessionalität – man kaufte selbstverständlich beim katholischen Bäcker oder Metzger – muss doch eine bemerkenswerte Weite (dies der alte Sinn des Wortes „katholisch“) dagewesen sein. Allerdings hat sie in der Grundschule auch noch „gelernt“, dass die Evangelischen, wenn sie die Hände leicht abwärtsgerichtet aneinanderlegen, zum Teufel beten. Prägend für meine Mutter wurde jedoch eine Form des Katholischseins, die nicht in der Abwertung, gar Dämonisierung anderer stecken blieb. Gott sei Dank.
Als 12-Jährige verlor meine Mutter ihren Vater. Eine feinfühlige und kluge Freudenstädter Frauenbundfrau, Maria Meier – eng befreundet mit dem Theologen und Philosophen Johannes B. Lotz SJ – spürte, dass Anregungen und die Erfahrungen von (geistlicher) Gemeinschaft dem Mädchen gut tun würde, und so lud sie die junge Ellen zu Veranstaltungen des Frauenbundes ein: Vortragsabende von Theologinnen des Frauenbundes gaben dem Geist der 12-Jährigen Nahrung. So erinnert sich meine Mutter namentlich an Frau Dr. Feifel, eine noch jugendliche Theologin, die im Elternhaus meiner Mutter übernachtete.
Das Kloster Beuron schließlich wurde ihr mit den vom Frauenbund im „Sonnenhaus“ angebotenen Wochen für junge Mädchen zu einem wichtigen Lebensort. 1937 erlebte sie, gleichsam mit angehaltenem Atem, in der Krypta des Klosters Beuron die Heilige Messe als prägenden Ort lebendiger Jesus-Gemeinschaft: Der Priester war hier Teil der Gemeinschaft, er zelebrierte nicht mehr mit dem Rücken zum „Volk“, sondern den Menschen zugewandt! Laien und Ordninierte waren nicht länger Lichtjahre voneinander entfernt, Gottes Volk und Geweihte bildeten eine Einheit, „wie in der Urkirche“, so erfuhr es meine Mutter als unauslöschliche Erfahrung. Sie war in diesem Moment Teil der liturgischen Bewegung; die Erfahrung der Präsenz Jesu in der Mahlgemeinschaft aller Getauften nahm sie für immer in sich auf. Sie prägte ihr Leben.
Die Stunden, die sie, ehrenamtlich, für die Kirche einbrachte, sind wohl nicht zu zählen. Ich denke an ihre tatsächlich lebensgefährlichen, weiten Wege von Ort zu Ort als ca. 20-Jährige, vor und nach 1945, an bedrohliche Situationen mit Tieffliegern und Soldaten, die sie in Kauf nahm, weil sie Gruppenstunden geben, wie viele andere, den Glauben weitertragen wollte, erfüllt von den Erfahrungen ur-christlicher Gemeinschaft.
Auch heute nimmt meine Mutter wachen Anteil an der Situation der Kirche. Sie erlebte die zahlreichen und fortschreitenden Verluste an kirchlicher Heimat durch die technokratische Schaffung von Großpfarreien. – So behilft sie sich mit der Lektüre der Gebetszeitschrift „Magnificat“ und mit Fernsehgottesdiensten, die sie durchaus schätzt. Doch vor einigen Tagen sagte sie mir mit Bedauern, ja mit Trauer über einen Gottesdienst im Kölner Dom, den sie regelmäßig „besucht“, wie sehr und wie spürbar doch der Priester in dem spärlich besetzten Gotteshaus „ein Anderer“ sei, unendlich weit entfernt von den Gläubigen, und dies nicht nur räumlich: Er da oben, sichtbar, vernehmbar, bedeutsam – und die da unten, unsichtbar, unhörbar, unwichtig. Fußvolk, nicht Gottes Volk. „Laie“ bedeutet am Anfang des Christentums jedoch: zugehörig zum Volk (griechisch laos) Gottes. „Laie“ ist ein Ehren-Wort. Doch kein lebendiges Band war für meine Mutter zu spüren zwischen den „Laien“ und dem „Amtsträger“ im Dom, eine schmerzliche Erfahrung.
Schon einmal hatte ich den Gedanken hier ausgesprochen, dass „Corona“ nicht an allem „schuld“ ist, aber manches zuspitzt und vor allem – sichtbar macht. Wenn wir eine lebendige, glaubwürdige Gemeinschaft der Glaubenden im Geiste Jesu Christi bilden und leben wollen, dann sollten wir wachsam wahrnehmen, welche Kirchenbilder gerade wieder Urständ feiern, und ob wir das wollen.
Es ist eindrücklich, in die Geschichte zu schauen. Danke, liebe Dorothee, für deinen guten Blick dafür! Das macht uns bewusst, dass wir Teil einer heutigen Geschichte sind, die wir mitprägen können. Wir können die heutige Glaubens- und Kirchengeschichte mitschreiben, indem wir allem widerstehen, was nur ein krankes Machtsystem schützen will. Und indem wir einstehen für das, was wirklich heilig ist, was uns im Glauben nährt und hält. Unsere Stimme ist wichtig. Zukünftige Generationen bauen auf uns, so wie wir auf dem Erbe unserer Ahninnen aufbauen können.
Ich habe den Gottesdienst aus dem Kölner Dom, den Deine Mutter gesehen hat, teilweise mitverfolgt. Meine Mutter schaut auch Fernsehgottesdienste. Ich bin erst später dazugekommen, zur Predigt. Mit Erstaunen und auch mit Befremden sah ich den Priester auf der alten hölzernen Kanzel stehen und sprechen. Für mich ein Novum. Bisher hatte ich noch nie jemand von dort predigen gehört. Und ich schaue immer mit meiner Mutter die Gottesdienstübertragung an, wenn ich sie besuche. Meine Mutter (89 Jahe und bei klarem Verstand) sagte: „Das ist neu, dass da der Pastor steht. Ich dachte, diese Zeiten seien in der katholischen Kirche vorbei. So weit weg von den wenigen Leuten, die in den Bänken sitzen. Was soll das? Ist das eine Anordnung vom Bischof? Ich finde das nicht gut. Er spricht von oben herab. Wahrscheinlich, weil er alles besser weiß. Oder wird dadurch die Predigt wichtiger?“ Tja, dachte ich, eine Predigt wird nicht besser oder gehaltvoller, je größer die Entfernung vom „Volk“ ist. Schade um die vertane Nähe. Corona hin oder her – wenn dies tatsächlich der Grund für den „Aufstieg“ war.
Zwar habe ich diesen Gottesdienst nicht gesehen, dafür aber einige andere, die in Zeiten von Corona gesendet oder gestreamt wurden. Die zusätzlich zum sinnvollen Abstand notwendige Entfernung vom „Volk“ fällt öfter auf. Unbehagen beschleicht mich. Brauchen Priester diesen Abstand? Wozu?
Die neu herausgekommene Instruktion der Kleruskongregation, in dem es auch um die Wahrung der (Macht-)Stellung des Pfarrers bei Strukturveränderungen in den Bistümern geht, hat mich erschreckt. Der Sonderstatus des Priesters wird neu beschworen. Einige Bischöfe kommentieren, sie würden dennoch an ihrer Politik der Einbindung von Laien in Entscheidungsprozesse festhalten, aber…!? Was bedeutet das Papier für die Glaubwürdigkeit von Kirche in der heutigen Zeit, was für uns Frauen? Und was für die diakonische Zuwendung zum Nächsten?
Umso bedeutsamer, dass wir gemeinsam unsere andere Auffassung von Kirche weiterhin leben und pflegen: gleichberechtigt Kirche sein. Das Not-wendend Diakonische im Blick behalten, Vielfalt ermöglichen. gemeinsames Ringen um einen guten, evangeliumsgemäßen Weg.
Claudia Schmidt bringt es auf den Punkt: „Unsere Stimme ist wichtig. Zukünftige Generationen bauen auf uns, so wie wir auf dem Erbe unserer Ahninnen aufbauen können.“
Obwohl ich im Studium als Grund- und Hauptschullehrerin das Fach Kath. Religion gewählt hatte, entfernte ich mich immer weiter von der Kirche. Zu wenig konnte ich mein Leben mit den Haltungen der Kath. Kirche in Einklang bringen.
Und dann wurde mein Mann Leiter der Kath. Jugendzentrale in Koblenz. Der Pfarrer, Rainer Maria Brixius, war bemerkenswert. Ich nenne ihn bei vollem Namen, er verstarb viel zu früh, 1989. Durch ihn durfte ich eine andere katholische Kirche kennenlernen. Er lud zu einem gemütlichen Abend ein und ganz selbstverständlich wurde erst einmal Eucharistie gefeiert, ganz schlicht wurden Brot und Wein gesegnet und miteinander geteilt, das war 1975. Es wurde weltliche Musik in unserem Wohnzimmer-Gottesdienst gespielt und NGL gesungen. Eine Kirche zum Anfassen, eine Kirche bei den Menschen. Fürbitten wurden frei formuliert. Das machte mir den Zugang zur Kirche leicht. Es wurde selbstverständlich, was ich vorher mir nicht vorstellen konnte, wir heirateten kirchlich. Und Rainer traute uns. Der ganze Gottesdienst war mit eigenen Texten gestaltet. Und viele beteiligten sich. Unsere Hochzeit, sie war nicht mein schönster Tag im Leben, aber der Gottesdienst, das war einer der schönsten. Wir Gläubigen wünschen Nähe und viele Pfarrer gehen auf Distanz. Corona lässt diese Kluft schier unüberwindlich wirken.