Das Bild drängt sich mir in dem Moment auf, als ich am Morgen nach der Bundestagswahl beim Frühstück die Wahlkreiskarte auf meinem Smartphone öffne. Ein Keil, der sich von Osten her ins Land frisst – „früher“ nur Sachsen – jetzt auch Thüringen. Dort wo heute mein Wohnort liegt.

Beim Schreiben zögere ich: „Keil“, „ins Land hinein fressen“ – will ich, sollte ich, darf ich solche Worte überhaupt verwenden? Ein Keil hat etwas Gewalttätiges. Er spaltet, zerreißt ein Ding in zwei Teile, er (zer)stört, irritiert. „Ins Land hinein fressen“ simuliert, dass eine Gefahr von außen kommt, etwas Fremdes, das sich dem bemächtigt, was „uns“ zu gehören scheint. Es klingt nach nach und nach fallenden „Brandmauern“ und ein wenig auch nach einer Art Seuche, die sich schleichend aber unaufhaltsam ausbreitet. Will ich diese Bilder wirklich wachrufen? Sind sie dem, was sich hier in meinem Bundesland ereignet, tatsächlich angemessen? Ich zögere viele Tage, diese Wahrnehmungen aufzuschreiben. Dann spricht auch der Landeskorrespondent vom Deutschlandfunk, Henry Bernhard vom „blauen Keil“ und ich merke, dass ich das nicht mit Erschrecken, sondern mit Erleichterung höre.[1]

Nein, ich will Menschen nicht beleidigen. Ich will sie nicht beschuldigen und schon gar nicht „abstempeln“ – aber mehr und mehr habe ich den Eindruck, dass es nichts hilft, die Dinge zu verschweigen, aus Angst, wie Marko Wanderwitz den Vorwurf des Ost-Bashings zu ernten.

Einerseits ist es, wie es ist: große Teile – in vielen Landkreisen 20-30 % der Bevölkerung – stimmen rechtspopulistischem, ja rechtextremem Gedankengut zu. Sätze wie „Die Moslems vermehren sich doppelt so schnell wie wir. Ihr Christen müsst aufpassen, ihr seid sowieso bald weg, dann leben wir hier alle nach der Scharia“ – sind keine Ausnahme, sondern an der Tagesordnung. Sie werden nicht von Menschen ausgesprochen, die schlecht ausgebildet, perspektivlos oder armutsgefährdet sind, sondern von Angehörigen der sogenannten „Mittelschicht“. Sie haben ein eigenes Haus, einen Hund, Familie, eine feste Arbeitsstelle. Wenn ich morgens aus dem Haus gehe, kann ich auf den 30 km bis zur Arbeit mindestens 10 Autos mit „Fuck you Greta“- Aufklebern zählen – bei Straßen, die nur ein Viertel so voll sind, wie in NRW oder Ba-Wü. Drei von ihnen stehen direkt vor unserer Haustür. Wenn in unserer Kleinstadt hunderte Flyer der rechtextremistischen Bewegung „III. Weg“ auf der Haupteinkaufsstraße liegen, hebt sie tagelang niemand auf. Obwohl Apolda seit der Landesgartenschau vor fünf Jahren enorm gewonnen hat, obwohl sich ein aktiver Stadtrat so gut und schlecht wie überall um die Belange Apoldas kümmert – es hier also nicht an sogenannten „Kümmerern“ mangelt, wird die AfD hier mit 25% bei den Zweitstimmen stärkste Kraft. Das Argument der Not zieht nicht. Zumindest nicht der finanziellen Not. Und zumindest nicht auf den ersten Blick.

Ich bin Seelsorgerin. Ich habe gelernt, bei offensichtlichen Widersprüchen auf der Ebene systemischer Erklärungsmuster tiefer nach zu fühlen. Und wenn ich das tue, dann gerät das Bild des irgendwie Fremden, Andersartigen, dass sich spaltend hineindrängt und sich eines Gemeinwesens bemächtigt, ins Wanken. Immer deutlicher schält sich ein Gefühl aus den Wahrnehmungen der letzten Jahre heraus: Angst. Hier gewinnt eine Partei Mehrheiten, die weder schlüssige Lösungsansätze noch sonderlich bekannte, kluge oder Zuversicht ausstrahlende Personen an die Spitze stellt. Hier gewinnt eine Partei Mehrheiten, die wie ein Spürhund jede Angst wittert, sie schürt, anfacht und solange verstärkt, bis die Ängste, die aus den verschiedenen Weltlagen vernünftiger Weise entstehen, übermächtig werden und kaum mehr beherrschbar scheinen. Eine Partei gewinnt, die hasserfüllt, demonstrativ schlecht gelaunt und aggressiv auftritt. Sie wird nicht trotz-dem, sondern gerade deswegen gewählt. Denn sie macht etwas sichtbar, was andere Parteien systematisch verdrängen: Ängste, Ärger, Wut. Tiefliegende Emotionen, die seit 32 Jahren – nein, seit 76 Jahren – keine angemessenen Ventile, keine politischen Ausdrucksmöglichkeiten gefunden haben, die über längere Zeit dem anfänglichen Vertrauen standhalten. Die Zuneigung zu den Nationalsozialisten endete in der Katastrophe, die Wir-kümmern-uns-um-alles-Simulation der SED im Desaster. Die Partei der versprochenen blühenden Landschaften paktiert hier und da mit Rechtsextremen, buhlt um Stimmen mit Hans-Georg Maaßen und reißt die vielbeschworene Brandmauer nach Rechts ein, indem sie mit der Wahl Kemmerichs Thüringen in Turbulenzen stürzt. Die Partei der Stabilität und der Wohlstandsversprechen auf Achterbahnkurs. Und weit und breit keine Demokrat*innen, die für die grundstürzenden Ereignisse nach 1989 eine dem wirklichen Erleben angemessene Sprache finden.

Die sogenannte „Wende“ vollzog sich in einem rasenden Tempo und ist mit ihrem in weiten Teilen brutalen kapitalistischen System über die Menschen in der ehemaligen DDR nur so hinweg gefegt. Bilder von jubelnden Mauer-Besteigungen sind immer noch jedes Jahr aufs Neue zu sehen. Was nicht zu sehen ist: die vielen Menschen, für die das DDR-System auch (!) Sicherheit, Geborgenheit und bescheidenen Wohlstand bedeutet hat. Es gibt bis heute keine angemessene und allseits akzeptierte Sprache für die tiefsitzende Angst beim Zusammenbruch eines Systems, dass die Bürger*innen über Jahrzehnte von allem abgeschirmt hat, was von außen kam – ich frage: welche Bürgerin Bayerns, welcher Bewohner NRWs trüge kein Trauma davon, wenn die BRD über Nacht kollabiert wäre und man sich in wenigen Monaten einem nie eingeübten politischen Modell hätte fügen müssen?

Wie lange haben die Bürger*innen Baden-Württembergs oder Westberlins gebraucht, um das lange und bleierne Erbe der Nazizeit zu überwinden? „Trau keinem über 30“ hieß es bei den 68ern – einfach deshalb, weil viele aus der Generation der älteren Brüder, ja wohl auch Schwestern, Väter, Mütter und Großeltern Funktionen und Aufgaben im nationalsozialistischen Staat innehatten und das absolutistische Gedankengut sich tief eingefressen hatte in die Seelen und Köpfe. Wer heute meint, Niedersachsen, Schleswig-Holsteiner, Saarländerinnen, Westfalen oder Bayerinnen seien 1945 über Nacht glühende Demokrat*innen gewesen, der vergisst mühsame 45 Jahre westdeutscher Geschichte und tiefer gesellschaftlicher Krisen.

Die Abwehr, als die 68er Generation begann, die tiefbraunen Flecken der Familien, die Abgründe hinter der Wirtschaftswunder-verliebten Gesellschaft zu benennen und ans Licht zu zerren, war riesig. Doch letztlich gipfelte dieser breite, oft aggressiv geführte Streit im Satz des Bundespräsidenten Richard Weizäcker zum 8. Mai 1985: „Der achte Mai war ein Tag der Befreiung“. Ein Ausschnitt aus dieser historischen Rede reißt mir heute, 36 Jahre später, ein Fenster in diese Nebelwand aus Erschrecken, Grübeln und beginnender Resignation angesichts blauer Wahlkreise in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt:

„Wir Deutsche (…) müssen die Maßstäbe allein finden. Schonung unserer Gefühle durch uns selbst oder durch andere hilft nicht weiter. Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit so gut wir es können ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit.“

Ist es vermessen, ist es unangebracht, diesen Satz Weizsäckers, der sich auf das monströse Verbrechen der Deutschen vor allem an Juden, aber auch an Sinti und Roma, Andersdenkenden, Sozialist*innen, Sozialdemokrat*innen, Homosexuellen und so vieler anderer bezog, auf die Situation nach der Bundestagswahl 2021 zu beziehen?

Ohne seine spezifische Bedeutung für 1985 zu verwischen: es braucht angesichts wachsender Bedeutung rechtsextremer Einstellungen dringend eines umfassenderen Verständnisses für die Geschichte – nein, nicht Ostdeutschlands, sondern unseres gesamten Landes. Denn sowohl die Geschichte der Teilung als auch die Geschichte einer rasant und oft traumatisch verlaufenden Wende ist unsere gemeinsame Geschichte. Genauso wie viele Menschen in den ostdeutschen Bundesländern gar nicht die Chance hatten, die lange und mühsame Aufarbeitung der nationalsozialistischen Zeit durchzumachen, so wenig haben Bürger*innen in den westdeutschen Bundesländern angefangen zu begreifen, dass die Geschichte der ehemaligen russischen Zonen zwischen 1945 und 1989 auch ihre Geschichte ist. Man stelle sich vor, die Amerikaner hätten nicht die anfanghaft von ihnen bereits verwaltete Besatzungszone im heutigen Thüringen abgegeben, sondern eine andere, westdeutsche Besatzungszone. Man stelle sich vor, Ostdeutschland hätte nicht stellvertretend für ganz Deutschland den Tribut an das überfallene und verbrecherisch behandelte russische Volk gezahlt – sondern etwa Bayern.

Wir sind ein Land. Wir haben nicht zwei Geschichten, sondern eine. Bisher haben wir davon wenig begriffen. Vielleicht ziehen wir den Keil langsam und mit unendlich viel Geduld, wenn wir anfangen, von unten aufeinander zuzuwachsen. Wirtschaftliche Entwicklung hat uns diese menschliche Aufgabe bisher nicht abgenommen und wird es auch in Zukunft nicht tun. Der westdeutsche – und ostdeutsche – Glaube an den Kapitalismus wird das nicht für uns erledigen! Schauen wir den fratzenhaften Ängsten ins Gesicht, versuchen wir, sie auszuhalten, auszusprechen. Nennen wir menschenverachtenden Rechtsextremismus beim Namen. Auch bei Abwehr. Streiten wir. Laut, hart, aber mit dem Ziel zusammen zu kommen. Wir müssen uns nicht im Taumel ikonographischer Wende-Feier-Bilder lieben und in den Armen liegen – wir müssen mühsam lernen, uns gegenseitig zu vertrauen.

[1] Henry Bernhard, Deutschlandfunk, Kommentar. 28.09.2021