Ich zehre noch immer von diesem Sommer. Von einer Zeit, über die ich sagen kann: „Ich habe nichts erwartet und alles bekommen“. Mit meinem jüngsten Sohn hatte ich zwei Wochen im Team der Urlauberseelsorge auf der Insel Wangerooge verbracht. Jetzt habe ich alle meine Fotos bearbeitet, einen Beitrag fürs Radio gemacht – und bin nochmals eingetaucht in dieses Sommerereignis. In jene Ahnung, was es bedeuten kann, gemeinsam Kirche zu sein.

Ich hatte nichts erwartet, weil ich gar nicht wusste, was auf mich zukommt. Im Gegenteil. Als wir auf Wangerooge ankommen, zweifle ich, ob das wirklich so eine gute Idee war, mich für die Mitarbeit bei der Urlauberseelsorge zu melden. Ich bin müde und erschöpft, hatte bis zur letzten Minute vor der Abreise gearbeitet, viel organisiert und alle Wäscheberge weg-gewaschen, um insgesamt drei Wochen Haus und Hof verlassen zu können. Und hier sollte ich nun jeden Morgen kurz vor 7 aufstehen und jeden Abend den Tag mit einem Gottesdienst beschließen – diesen Rahmen konnte ich dem Programm im Vorfeld entnehmen. Dabei wäre es mir eigentlich nach Ausschlafen und einfach mal gar nichts tun gewesen, nach treiben lassen. Und wie erst sollte ich meinen Sohn um diese Zeit motivieren, das Bett zu verlassen? Daran wollte ich gar nicht denken.

Es kam alles ganz anders. Und es war alles ganz einfach.

Wir stehen mit unseren Koffern am Inselbahnhof, haben google-maps aufgemacht und suchen nach dem Weg. Wir sind zum ersten Mal auf Wangerooge. Da ruft plötzlich jemand unsere Namen: „Seid ihr Manuela und Benedikt?“ Ich bin perplex, hier kennt uns doch keiner. Und dann steht da eine Handvoll fremder Frauen um uns rum und meint, sie seien vom Team der Urlauberseelsorge, hätten uns noch auf der Liste und dachten, wir könnten es sein. Ehe wir es uns versehen, sind Koffer und Rucksäcke auf den mitgebrachten Handwägen verstaut und los geht‘s es in Richtung Kirche und dem Gemeindehaus Ansgar, unserer Unterkunft.

Um 19.30 Uhr ist der erste Gottesdienst; während Corona war ich nur ganz selten in der Kirche. Ich hatte nicht wirklich etwas vermisst. Und jetzt traute ich meinen Ohren kaum: Fast die Hälfte unseres 15-köpfigen Teams ist zum Orchester geworden: Querflöte, Flöte, Klavier, Violine, Gitarre und Kontrabass begleiten von jetzt ab jeden Tag die Lieder, deren Texte einfach mit Beamer an die Wand geworfen werden. Viele Taizé-Lieder, schöne Texte, viele kenne ich – gesungen habe ich sie schon sehr lange nicht mehr. Die Kirche ist corona-voll, es klingt wunderschön durch den Kirchenraum, über 50 Urlauber sind da, viele stehen sogar vor der Kirche. Ich bin beeindruckt. Ebenso von der Schar der Ministrantinnen und Ministranten. Hier auf Wangerooge gibt es keine ausgrenzenden Regeln: Alle dürfen dabei sein, egal wie alt. Pfarrer Egbert Schlotmann hängt einfach jeder und jedem ein Kreuz um den Hals und dann ziehen sie gemeinsam ein. Die Kleinen dürfen sogar Wasser, Wein und Brot zum Altar bringen oder zur Gabenbereitung klingeln. Die älteren Ministranten assistieren. Und weil der Pfarrer so groß ist und manche Minis sehr klein, geht er hinter dem Alter in die Knie, damit sie auf Augenhöhe sind. Großartig! Und wenn am Sonntag die Menschen auf Bänken im Innenhof sitzen, weil drinnen kein Platz ist, dann nimmt Egbert Schlotmann die große Hostie, hält sie hoch, läuft damit durch die Kirche nach draußen und spricht die Einsetzungsworte unterwegs. Seine Predigten sind kurz, frei und tagesaktuell. Und wenn Frauen (Theologinnen) aus dem Team fragen, ob sie einmal predigen dürfen ist seine Antwort: „selbstverständlich“.

Wir sind schnell drin im Rhythmus der Urlauberseelsorge: 7.30 Uhr Einklang, 8.00 Frühstück, 9.00 Uhr tägliche Besprechung, 12 Uhr Mittagessen, 15 Uhr Kaffee, 18.00 Uhr Abendessen, 19.30 Uhr Gottesdienst. Zwischendrin individuelles Programm. Das Prinzip ist einfach: jeder bringt dafür seine Gaben und Talente ein, alles andere wird gemeinsam erledigt. Zum Beispiel Tischdienst, Gartenarbeit, Corona-Registrierung oder die morgendlichen Einklänge vorbereiten. 13 Frauen zwischen 18 und 65, ein junger Mann und Benedikt, das ist unser Team. Nur wenige kennen sich bereits. Es funktioniert erstaunlich gut, wir lachen viel, wir unterstützen einander, wir sitzen abends zusammen und trinken ein Gläschen Wein. Meine Gaben als Journalistin liegen nahe, ich kann schreiben und fotografieren. Deshalb biete ich kleine Workshops an, fotografieren beim Sonnenaufgang und biographisches Schreiben. Ersteres wird am Ende zu meinen bewegendsten Erinnerungen an Wangerooge gehören; um kurz vor 6 Uhr dem Beginn des Tages am Meer entgegenzulaufen ist ein Seelen-Moment. Spontan übernehme ich noch den facebook-Kanal der Kirchengemeinde, poste Veranstaltungen und Fotos.

Nach vier Tagen spüre ich nichts mehr von meiner Müdigkeit, ich bin im „Flow“. Dieser durchgetaktete Tag trägt mich auf wundersame Weise. Ein Liedvers vor jeder Mahlzeit am großen Tisch erinnert mich an Zeltlagerzeiten in der Jugend. Die klare Struktur befreit vom ständigen neu-planen und überlegen. Klosterleben könnte sich so ähnlich anfühlen, denke ich mir. Benedikt hat noch nicht gemurrt bisher, er hat alles mitgemacht; das ist ein gutes Zeichen. Vielleicht tut auch ihm die Struktur gut, gerade nach diesem verschlamperten Corona-Schuljahr. Er hat mittlerweile seinen Platz und seine Aufgaben gefunden: Er ministriert, holt jeden Abend Brot und Brötchen für das Haus vom Inselbäcker und mäht Rasen. Bei seinem ersten Workshop-Angebot, Fotografieren und Bilder bearbeiten mit dem Handy, kommt nur ein Mädchen. Bei der zweiten Auflage stehen plötzlich 12 Kinder und Jugendliche da. Ich schwitze – ob er das hinbekommt, 90 Minuten alleine? Anfangs bin ich noch dabei und helfe ein wenig, den Ablauf zu strukturieren. Er erklärt den Gleichaltrigen, was es mit der ISO auf sich hat, was eine Blende ist und warum der goldene Schnitt wichtig ist. Dann zieht die Gruppe los über die Insel auf der Suche nach Motiven. Am Ende wollen sie alle seine Handynummer – es kann nicht so schlecht gewesen sein. Ich bin beeindruckt und sage ihm, dass er jede Präsentation, die in der Schule noch auf ihn zukommt, ohne Problem meistern wird.

Ich lerne, dass es zugleich Besonderheit und Herausforderung der Inselseelsorge ist, dass wir nie wissen, wer kommt. Das ist mal abhängig vom Wetter, mal von den Ferienzeiten in den Bundesländern oder von anderen Veranstaltungen auf der Insel. Und von unserem Angebot selbst natürlich. Aufgabe ist also, sich jeden Tag neu auf Gäste einzustellen – und nichts zu erwarten. Für meine Kollegen vom Kirchenradio mache ich eine kleine Umfrage unter den Urlaubern, die zum Gottesdienst kommen und möchte wissen, weshalb sie da sind. Für mich das Erstaunlichste dabei: ich finde niemanden, der zum ersten Mal da ist. Im Gegenteil: etliche kommen sogar deswegen nach Wangerooge, weil sie wissen, es gibt hier nicht nur Sonne, Meer und gutes Essen, sondern auch ein spirituelles Angebot. Das hat sich über die Jahrzehnte rumgesprochen oder „weitervererbt“ – denn ich treffe Menschen, die mir erzählen, dass sie schon mit ihren Eltern hier waren, heute sind sie es mit ihren eigenen Kindern.

Strandgottesdienst. Pfarrer Schlotmann läuft in Birkenstock zur Promenade, im kurzen, karierten Hemd und nur mit Stola. Kein Gewand. Er ist erkennbar als Priester, aber es ist nicht aufdringlich. Mir gefällt das gut und ich muss in diesem Moment an unsere Fronleichnamsprozessionen denken, mit Himmel, Glanz und Gloria; die mir jetzt wie trotzige Demonstrationen aus einer anderen Zeit vorkommen. Der Gottesdienst mit Blick in die Weite und Wind in den Haaren tut gut. Als Altar dient ein weißer Holzschemel im Sand, Brot und Wein in den goldenen Gefäßen wirken wie ein Stillleben vor dieser Kulisse. Nebenan im Strandkorb wird Party gefeiert. Genauer gesagt: die Urlauber unterbrechen ihre Party und hören zu. Egbert Schlotmann setzt sich nach dem Gottesdienst zu den jungen Leuten an den Rand der Strandpromenade, trinkt noch ein Bier mit ihnen. Und er hört sie sagen, dass sie den Kontakt zu Kirche zuhause verloren haben. Aber das hier eben haben sie ganz schön gefunden. In seiner Predigt zuvor hat Egbert Schlotmann gefragt: „Kennen wir eigentlich die Bedürfnisse der Menschen, die hierherkommen? Wissen wir, was sie brauchen? Erreichen wir sie? Finden sie uns? Bieten wir das richtige an?“ Es sind Fragen, auf die wir alle keine klare Antwort haben. Aber ich denke, solange wir, solange die Kirche, diese Fragen überhaupt stellt, ist das ein gutes Zeichen.

Die Stunden zwischen den Diensten und Programmpunkten zieht es mich hinaus. Mein Handy hatte ich schon nach drei Tagen weggelegt. Erst auf „stumm“ geschalten und dann nur noch zum Fotografieren benutzt. Ich vermisse nichts. Lese keine Nachrichten, höre kein Radio. Jedes Mal, wenn ich über die roten Pflastersteine in den Straßen laufe, fühle ich mich in eine andere Zeit zurückversetzt. Um mindestens ein Jahrhundert. In den ersten Tagen schaue ich noch dreimal links und rechts, um sicherzugehen, dass tatsächlich kein Auto kommt. Aber es kommt keines.

An den letzten beiden Tagen der Teamzeit legen wir alle zusammen Hand an und gestalten den Altarraum von St. Willehad neu. Anlass dazu gibt uns ein schöner, mächtiger, alter Holzbalken, den das Team vor uns am Meer gefunden und zum Haus geschleppt hat. Wir reinigen ihn jetzt, schleifen und hobeln Spreißel ab. Er soll künftig das blaue Edelsteinkreuz tragen. Es ist auch ein symbolischer Akt, der sich hier abspielt: Wir hängen Christus ab, vermessen das Kreuz neu. Wir lösen Taue, räumen Steine aus dem Weg, reinigen Netze und werfen sie wieder neu aus. Am Ende ist der Altarraum befreit vom Staub und vom Schmodder, der sich über die Jahre angesammelt hat. Zunächst bin ich unsicher, wie das die Inselgemeinde findet – es ist schließlich deren Kirche, die wir hier einfach mal schnell auf den Kopf stellen. Doch es ist ganz anders. St. Willehad ist auch zu unserer, zu meiner Kirche geworden in diesen Wochen. Weil es für die kleine Inselgemeinde schon immer klar ist: es geht nur miteinander. Hier mauert niemand, im Gegenteil. Aus der 250-Seelen-Gemeinde der Insel kommt nicht nur der leckere Kuchen zu unserer Begrüßung am ersten Tag, wer von den Insulanern in der Sommersaison Zeit hat kommt zu Veranstaltungen und Gottesdienst, bringt sein Musikinstrument mit und reiht sich ein.

Im Dankeschön-Päckchen der Gemeinde für unsere Mitarbeit bei der Urlauberseelsorge ist ein kleiner Bernstein. Pfarrer Schlotmann hat das Nordsee-Gold am Strand gefunden. Dieses Unikat liegt jetzt auf meinem Schreibtisch. Ich halte es immer mal wieder ins Licht und denke an die Insel. Und an die Worte im Abschiedsgottesdienst. Pfarrer und Gemeinde haben sich bei uns und allen Sommerteams in diesem Jahr dafür bedankt, dass wir „dem Treibsand unserer Zeit ein wenig Gold ausgewaschen haben“.

Ja, das Gold dieses Sommers schimmert noch durch. Es scheint, als ob auch mein Sohn diesen Schimmer wahrnimmt. Ihm ist der Abschied von Wangerooge mindestens so schwergefallen wie mir. Er will nächsten Sommer zurückkommen. Sein Kommentar: „Auf so eine Kirche habe ich Bock“. Wenn das ein 13-jähriger sagt, dann ist da ganz Vieles gut gewesen.

 

Website der kath. Kirchengemeinde St. Willehad auf Wangerooge

Für das Format SWR1 Begegnungen habe ich mit Pfarrer Egbert Schlotmann über Urlauber- und Insel-Seelsorge gesprochen. Der Beitrag läuft am Sonntag, 19.9., in SWR1 Sonntagmorgen gegen 9.15 Uhr. Nachlesen und Nachhören kann man das Gespräch hier: https://www.kirche-im-swr.de/?page=beitraege&autor=266