Durch Corona ist auch für mich so manche Tür in diesem Jahr zugefallen – aber gleichzeitig haben sich andere geöffnet. Eine davon ist die Tür zum Kellerraum einer Schule in unserer Gemeinde. Dahinter hat die Kirchengemeinde vor zwei Jahren einen Verkaufsraum eingerichtet und bietet dort einmal in der Woche Lebensmittel im improvisierten Tafelladen an. Weil die die Ehrenamtlichen überwiegend zur älteren Generation gehören, hat die Gemeinde sie wegen Corona um eine Pause gebeten. Das war der Grund für meinen Aushilfs-Einsatz; im „normalen“ Leben bin ich zu dieser Zeit im Büro am Schreibtisch. Und so habe ich nun fünf Wochen lang Gemüse sortiert, Kunden bedient, kassiert – und bin mit Menschen zusammengekommen, denen ich normalerweise nicht begegnen würde.

Einer von ihnen ist Batu*, Helfer in mehreren Tafelläden im Dekanat, so um die 50 Jahre alt schätze ich. Es fiel mir gleich auf, dass er sehr aufmerksam war, sehr zuvorkommend und immer den richtigen Handgriff machte. Gut Deutsch sprach er noch nicht, aber wir konnten uns verständigen. Weder an seinem Akzent noch durch sein Äußeres konnte ich erkennen, aus welchem Land er kommt. Also fragte ich ihn. Als er sagte „aus der Türkei“ bin ich hellhörig geworden. Wer in dieser Zeit aus der Türkei flieht, der tut dies sehr oft aus politischen Gründen. Und genau so ist es. Er sei wegen Erdogan hier, sagte er. Batu hatte seinen Job als Laborant verloren – und seine Frau ist seit drei Jahren im Gefängnis. So wie viele tausende andere Frauen. Ich habe zu wenig Einblick in die politischen Strukturen und Bewegungen in der Türkei um über die dortige Situation zu urteilen. Unweigerlich musste ich bei seiner Schilderung aber an die Demonstranten in Stuttgart denken, die in den letzten Wochen auf die Straße gegangen sind um gegen die Einschränkungen ihrer Grundrechte zu demonstrieren. Ich glaube vielen Menschen ist gar nicht bewusst, in welch einer „Vorzeige-Freiheit“ und in welch stabiler Demokratie, trotz allem, wir hier in Deutschland leben! Batu und seine Frau hätten sicher gerne mit uns getauscht.

Ich habe Batu nach seinen Plänen gefragt: er wolle jetzt besser Deutsch lernen und dann eine Ausbildung machen zum Altenpfleger. Die Anerkennung seiner Laboranten-Ausbildung hier sei schwierig, es fehlten noch immer Papiere. Früher, in der Türkei, habe er nach der Arbeit immer ehrenamtlich geholfen, erzählt er mir. Er habe sich um Studenten gekümmert und Obdachlose versorgt. Dass er jetzt keine richtige Arbeit habe, sei sehr schlimm für ihn.

Kontakt zu seiner Frau hat Batu nur indirekt. Direkt mit ihr zu telefonieren sei zu gefährlich. Der Austausch geschieht über mehrere Verwandte und verschiedene Handys. Ich habe ihn auf die Corona-Situation im Gefängnis angesprochen. Er hat verbittert gelacht– ja, dort gäbe es etliche Corona-Fälle; aber Erdogan würde das dementieren.

Am Ende meines Einsatzes im Tafelladen wollte ich wissen wie er es schafft durchzuhalten. Er sagte, er habe immer Hoffnung. „Hoffnung, dass alles gut wird“. Fünf Jahre müsse seine Frau im Gefängnis bleiben, dann komme sie frei. Und dann musste ich mit den Tränen kämpfen, als er zu mir gesagt hat: „Bitte, bete für mich und vor allem, bete für meine Frau“. Das werde ich, habe ich versprochen – und vielleicht mögen sich mir ein paar Menschen anschließen.

*Name geändert