Die Polizei in Stuttgart ist heute Abend auf der Hut. Eine Woche nach den schrecklichen Krawallen sind über 500 Einsatzkräfte in der Innenstadt unterwegs, um jede Gewaltbereitschaft im Keim zu ersticken. Die Bilder, die durch die ganze Republik gingen, haben auch mich verstört: enthemmte Gewalt, Straßenschlachten, sinnlose Raserei und Wut. Wie oft war ich -in Stuttgart geboren- am Eckensee bei der Oper, im Schlossgarten, auf dem Schlossplatz, auf der Königstraße! Die Vorstellung von einem wütenden Mob, von eingeschlagenen Scheiben und geplünderten Geschäften geht nicht in meinen Kopf.

Längst wird Ursachenforschung betrieben, wird Schuld hin und her geschoben. Die Sache ist verzwickt. Wie nennt man solche Gruppierungen? Sie sind nicht politisch motiviert. Der gemeinsame Nenner: junge Männer aus verschiedensten Ländern, frustriert, perspektivlos, mit Hass auf die Welt und alle, die sie für ihr Elend verantwortlich machen können. Dazu Alkohol in Strömen. Ihre Wut richten sie auf die tapferen Ordnungshüter und weiden sich an der Macht, die sie kurzzeitig bekommen, weil niemand ihre Gewaltorgie stoppen kann.

Corona gilt als der Tropfen, der das Fass des Frustes bei den jungen Männern zum Überlaufen gebracht hat. Niemand wird das als Entschuldigung gelten lassen. Neben dem Anrichten von immensem Sachschaden wurden etliche Menschen verletzt, zum Teil schwer. Keine Begründung kann diese Schuld wegnehmen.

Aber ich merke, dass mich die Verknüpfung nicht loslässt. Corona hat viel Solidarität und Kreativität hervorgebracht. Auf der anderen Seite, so denke ich, bringt es auch die Schattenseiten schonungslos ans Licht. „Durch Corona wird manches in uns an die Oberfläche gespült,“ hat neulich eine Freundin zu mir gesagt. Mit dabei sind unter Umständen diffuse Ängste, aufkeimende Krisenstimmung, innere Unsicherheit. Auch ich erlebe neben mancher Routine, die ich mit den Corona-Bedingungen gewonnen habe, dass der Boden, auf dem ich stehe, brüchiger geworden ist. Dass ich dünnhäutiger bin. Schneller an meine Grenzen komme. Dass ab und zu die großen Fragen aufbrechen, wie unsere Zukunft sein wird: wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich, kirchlich.

Die Situation gerade kostet Kraft. Und Frustrationstoleranz. Sich das jeden Tag einzugestehen, verschafft Luft. Noch mehr hilft es, wenn wir innere Zweifel aussprechen und teilen können. Und einander nichts vormachen müssen. Auch das ist gelebte Solidarität.