Mit einigen meiner Nachbarinnen habe ich mich zu einer kleinen WhatsApp-Gruppe zusammengeschlossen: Meist dreht sich die sporadische Kommunikation um Alltägliches: um freiwerdende Konzertkarten, überzählige Quitten oder Aprikosen, oder um die Suche nach einem aktuellen Reiseführer von Kopenhagen. Doch während ich selbst noch im Urlaub war und hoffte, dass die angekündigten Regenfälle im Haus meiner Mutter nicht zu Wasser im Keller führen würden, hörte ich die Sprachnachricht einer Nachbarin ab, die mit ihrer Familie überstürzt aus den Ferien zurückkehren musste: Ihr Vater hatte buchstäblich „alles“ verloren! Seine Erdgeschosswohnung fiel den gewalttätigen Wasser- und Schlammmassen komplett zum Opfer. Zum Glück konnte er selbst sich in die Wohnung über ihm retten, und dort wartete er nun, eingeschlossen vom Wasser, auf die Evakuierung. Diese gelang – vorübergehend wohnt er nun bei der Familie seiner Tochter, mit der er sehr vertraut und verbunden ist: was für ein Glück in allem Elend.
Doch was es heißt, „alles“ verloren zu haben, das konnte und kann ich mir kaum vorstellen, das konnte und kann ich kaum emotional nachvollziehen. Ein wenig von der fürchterlichen Dramatik ging mir nach und nach auf, als in den nächsten Tagen weitere Nachrichten bzw. Bitten der Nachbarin eingingen. So suchte sie ein gebrauchtes Portemonnaie für den Vater, der das Bedürfnis hatte, sein einziges Hab und Gut – seinen Personalausweis – sicher zu verwahren. Niemand aus seiner Familie hatte ja gerade die Zeit, Neues zu besorgen, denn alle waren im Einsatz, die zerstörten Möbel, Bücher, Küchenutensilien und den schweren Schlamm aus dem überfluteten Erdgeschoss zu schaffen – zum Glück auch unterstützt von Nachbarn und Freunden.
Später wurde in unserer WhatsApp-Gruppe um einen Gehstock für den Vater gebeten, um eine Zeitung, um eine Kappe gegen die nun wieder hell scheinende Sonne. Gerade diese Details gingen mir ans Herz: Mitten in einer Welt, die übervoll mit Waren ist, in der sich hierzulande jeder Einwohner, jede Einwohnerin jährlich 47 neue Kleidungsstücke kauft, in einer Wohlstandswelt, in der wir sogar professionelle „Aufräumerinnen“ brauchen, um der Flut der Dinge Herr werden, fehlt es diesem Mann an allem. Gerade in dieser unserer Konsum-Welt ist der völlige Verlust von „allem“, der materielle und vor allem der immaterielle Verlust schwer vorstellbar – und doch derzeit grausame Wirklichkeit für viele.
Unvorstellbar ist der vielfache jähe Tod, der Menschen in der Flutkatastrophe ereilt hat, oft im eigenen Haus, im eigenen Keller. An dieses Leid wage ich kaum zu denken. Aber die Bedrohung, die eindringt in den Bereich, der eigentlich und zutiefst Refugium, Schutzwall vor den kleinen und größeren Ärgernissen des Lebens ist, muss über den Tag hinaus für viele Menschen traumatisch sein.
Die helle Seite der dunklen Flut zeigt sich in der Flut der Hilfeleistungen, der Sach- und Geldspenden, vor allem aber im Einsatz der vielen Helferinnen und Helfer. Eine meiner Töchter lernt gerade für ein wichtiges Examen. Ihre Zeit ist sehr eng getaktet. Doch heute fährt sie zum dritten Mal nach Ahrweiler, um bei den Eltern von Freunden zu helfen. Damit ist sie nur eine von beeindruckend vielen, gerade jungen Menschen, die einfach mit anpacken und – im Wortsinn und höchst solidarisch – die Drecksarbeit machen. Auch das sollten wir in Erinnerung behalten.
Liebe Dorothee,
anschaulich schilderst du die persönliche Seite der schrecklichen, unfassbaren Flutkatastrophe. Es ist unermesslich, welches Leid und welche Traumata die Menschen dort erleiden! Ich bin sehr erschüttert, auch wenn wir nicht so nah am Geschehen wohnen wie du. Die Katastrophe zeigt uns eindringlich, wie flüchtig alles scheinbar Sichere ist… Wie gut, wenn jetzt viele solidarisch mitanpacken und helfen, die Not zu lindern!
Herzliche Grüße, Claudia
Liebe Dorothee,
tatsächlich ist es unfassbar: von heute auf morgen, wirklich über Nacht, aus einem meist gut situierten Leben in die Obdachlosigkeit, Heimatlosigkeit, Besitzlosigkeit gespült zu werden. Oder liebe Menschen, Angehörige oder Freund*innen, zu verlieren.
Als ich dieser Tage zum wievielten Male den Song „fragile“ von Sting hörte, ging es mir durch und durch. Fragil – so ist unser Leben. Trotz aller vermeintlichen Sicherheit, die wir uns zu schaffen versuchen.
Und du hast es mit den Beispielen der „kleinen Dinge“ so eindrücklich beschrieben.
Diese kleinen Dinge, die vielen Helfer*innen, die kraftvoll und mit Know-how anpacken: Das sind Hoffnungslichter und wichtige Zeichen gelebter Nächstenliebe.
Gerade wir im Bistum Trier sind dankbar für die vielen Hoffnungslichter, die uns aus nah und fern erreichen. Und die wir gerne weitergeben.
Liebe Grüße * Jutta